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Marcel Carnés’ während der deutschen Besatzungszeit zwischen 1943 und 1945 entstandener Film „Die Kinder des Olymp“ ist eine Ausnahmeerscheinung geblieben. Wenige Schwarz-Weiss-Filme dieser Epoche haben ihren Bekanntheitsgrad bewahrt, werden so häufig als Lieblingsfilm in diversen Prominentenlisten aufgeführt und verfügen noch heute über ein hohes Identifikationspotential. Doch wie so oft haben Verklärungen als „Kult“ oder „Jahrhundertfilm“ auch ihre Schattenseiten, denn sie verdecken mit ihrer Begeisterung den Blick auf wahre Qualitäten.

In den 80er Jahren erlebte „Die Kinder des Olymp“ einen regelrechten Boom, stand in jedem Off-Kino, dass etwas auf sich hielt, auf dem Programm und galt als unangreifbar. Schon die Herstellung des Films unter der Aufsicht der Nazis, die den Machern erhebliches Improvisationstalent abverlangte, nötigte Respekt ab. Die beeindruckenden Massenszenen auf dem Gauklermarkt oder beim Karneval innerhalb der theaterartigen Kulisse von Paris, aber auch die große Anzahl an Haupt- und Nebendarstellern hatten den gewollten Nebeneffekt, dass möglichst Viele davor bewahrt werden konnten, zu den berüchtigten Arbeitseinsätzen verpflichtet zu werden. Ein ähnliches Schnippchen schlug man der Besatzungsmacht mit der Aufteilung des Films in zwei Akte. Göbbels hatte nur Filme bis zu 90 Minuten Länge erlaubt, aber mit diesem Kniff konnte Carné seinen aufwendig erzählten Film fast 3 Stunden lang gestalten.

Gefordert war außerdem eine zeitlich weit zurückliegende Handlung, die keinerlei aktuelle Bezüge aufweisen durfte und im „menschlich privaten“ angesiedelt werden musste. Konsequent griff man auf die Vita dreier Zeitgenossen zurück, die Berühmtheit in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts in Paris erlangten – den Intellektuellen und Mörder Pierre-François Lacenaire, den Schauspieler Frédérick Lemaître und den Pantomimen Baptiste Debureau. „Die Kinder des Olymp“ fordert damit keinerlei historische oder dokumentarische Genauigkeit ein, aber mit der Verwendung dieser „echten“ Charaktere schaffte sich Drehbuchautor Jacques Prevért den Freiraum, sehr komplexe Persönlichkeiten zu gestalten, die in ihrem Denken und Tun eindeutig außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft standen.

Die Optik des Films wird durch seinen kulissenartigen Charakter bestimmt. Carnés’ impressionistischer, sehr dunkel gehaltener Stil passt sich der Fassade von Paris an und taucht alles in ein weich zeichnendes, verschattetes Licht. Dieser „Poetischer Realismus“ genannte Stil wurde von einigen jungen französischen Regisseuren (darunter auch René Clair und Jean Renoir) in den 30er Jahren als Antwort auf die einheimische Avantgarde entwickelt. Zwar entstand „Die Kinder des Olymp“ erst einige Jahre danach, aber man muss konstatieren, dass diese Art der filmischen Gestaltung der historischen Einbettung sehr entgegenkommt und der gesamten Handlung trotz des theaterartigen Rahmens einen authentischen Charakter gibt.

Zusammen mit der Handlung, die sich der hingebungsvollen Liebe von vier Männern (zu den oben genannten drei Charakteren gesellt sich noch der außerhalb des Milieus stehende, reiche Graf de Montray) zu Garance (Arletty) widmet, trug diese Optik zu dem Ruf als „romantischer Film“ bei, aus dem die Pantomimenkunst des Jean-Louis Barrault noch heraus ragt. Seine Figur des Pierrot, die er getreu dem Vorbild Debureau’s gestaltete, entwickelte sich immer mehr zu einer Kunstfigur, die bis heute aus kaum einem Kunst- und Andenkenladen wegzudenken ist. Die im Film gestalteten Theater- und Pantomimenszenen sind von überragender Qualität und zeigen Barraults Meisterschaft, aber die Herauslösung einiger Szenen aus dem Kontext verfälschen den Charakter und ließen den Pierrot zur Kitschfigur verkommen.

Debureau’s Pierrot war eine zeitgenössische Anpassung an den Pagliacco der Commedia dell’Arte, der dort den Tollpatsch und feigen Angeber gab. In einer Szene im Film tritt er gemeinsam mit Harlekin auf, dem Spaßmacher und Favoriten des Publikums, der natürlich problemlos das Herz der auch von dem Pierrot angebeteten Schönen gewinnt. Die Figur des Pierrots, die nur eine Seite eines Charakters verkörpert, ist erst im Zusammenspiel mit den anderen Figuren zu verstehen, welches die inhaltliche Komplexität vermittelt. Eine Theateraufführung innerhalb des Films mit dem Pierrot und seinem Gegenspieler, dem Harlekin, in den Hauptrollen wirkt wie der Kulminationspunkt des gesamten Geschehens, denn „Die Kinder des Olymp“ ist nichts anderes als eine um viele Personen und Handlungsstränge erweiterte Fassung der Auseinandersetzung der beiden gegensätzlichen Figuren um die Gunst einer Frau.

Allerdings verlässt der Film dabei die plakative Einordnung seiner Charaktere und gestaltet sie vielfältiger, ohne den ursprünglichen Charakter zu verleugnen. Barrault’s Spiel, das den ängstlich, ungeschickten Eindruck seiner Figur vergessen lässt, hat die heutige Sicht auf den Pierrot als melancholische Gestalt voll großer Gefühle geprägt, aber er bleibt auch von allen Protagonisten der inkonsequenteste, der letztlich sogar seine Frau und seinen Sohn im Stich lässt. Diese charakterliche Komplexität wich in der Beurteilung des Films zunehmend dem Eindruck der großen, tragischen Liebe zwischen dem unglücklich verliebten Pantomimen und der schönen Garance.

Das lässt oft vergessen, um welch opulenten, redegewaltigen Film voll Witz und Charme es sich bei „Die Kinder des Olymp“ handelt, der kurzweilig durch die knapp dreistündige Handlung führt. Neben dem Pantomimen prägen drei weitere redegewandte Personen das Geschehen. Da ist zum einen Pierre Brasseur als Frédérick Lemaître, ein selbstbewusster und nicht uneitler Schauspieler, der sich mit Vehemenz seine Rollen sucht, ständig schönen Frauen nachjagt und mit seinem aufwändigen Lebensstil gehörige Schulden produziert. Obwohl Debureau sich zuerst um Garance bemüht, gewinnt Lemaître ihre Gunst, da er einfach direkter ihre Liebe einfordert. Anders als in der Commedia dell’Arte gehört ihm – dem Harlekin – hier nicht die Gunst des Publikums, da Prevért stark dessen leichtlebigen Charakter betont. Auch der Liebe zwischen ihm und Garance fehlt die notwendige Ernsthaftigkeit, so dass auch Debureau nicht wirklich Anstoß daran findet. Desto bemerkenswerter ist es, das Lemaître sich letztendlich als der ehrlichste und konsequenteste Charakter erweist.

In diesem komplexen Zusammenspiel zwischen Pierrot und Harlekin erkennt man die Tiefe und erzählerische Qualität des Films, dem es gelingt dieser Konstellation einerseits neue Seiten abzugewinnen, andererseits eine Aktualität in der zwischenmenschlichen Interaktion darzustellen, die bis heute zurecht als zeitlos gilt.

Besonders die Figur des intellektuellen Mörders Pierre-François Lacenaire und der angebeteten Garance haben bis heute Beispielcharakter. Seine nach außen gezeigte Souveränität, die sich nicht scheut auch Gefühle zuzulassen, lässt ihn trotz seiner Verbrecherlaufbahn zum positiven Charakter werden, der letztlich auch die Konsequenzen aus einem Tun zieht.

Ebenso ist die Frauenrolle der Garance von frappierender Modernität, denn der Film verurteilt sie nicht wegen ihrer offensichtlichen Promiskuität, sondern gesteht ihr auch intensive Gefühle zu, die ihr die Umgebung wegen ihrer angeblichen Leichtlebigkeit abspricht. Mit der Figur der Nathalie, die sich in ihrer aufopferungsvollen Liebe nach Debureau verzehrt, stellt ihr der Film den gängigen Frauentyp gegenüber. María Casarès gelingt es in dieser wichtigen Nebenrolle, einerseits Mitleid und Verständnis zu gewinnen, in ihrer fanatischen Art aber auch die verzerrte Maske des Pflichtgefühls zu zeigen – für die damalige Zeit ein geradezu revolutionärer Blick auf diese Frauenrollen, auch wenn er durch die Einordnung des Films in das Schauspieler- und Gauklermilieu etwas abgeschwächt wurde.

Die Zeitlosigkeit dieses großartigen Meisterwerkes, liegt vor allem in seiner Komplexität, der es gelingt ausgelassene Unterhaltung und tragische Liebesgefühle, Burleske und intensives Schauspiel, unterschiedlichste Charaktere, Wortwitz, Schlagfertigkeit und intellektuelles Niveau, schnelle Aktionen und ruhige Momente zu einem Gesamtkunstwerk zu vereinigen (10/10).

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