Review

Le Chevalier mystère (1899)
Le Royaume des fées (1903)
A la conquête du pôle (1912)

von Georges Méliès

Méliès ist wieder ein Begriff geworden, der auch einem Massenpublikum etwas sagt: Scorsese sorgte mit seinem seichten „Hugo" (2011) für diesen neuen Popularitätsschub - und man mag sich fragen, warum es 1997 nach Scorseses „Kundun" keinen vergleichbaren Gaston Velle Kult gab... vermutlich, weil einem der Name dort nicht schmackhaft genug gemacht worden war (während „Hugo" aus seinen Méliès-Lobpreisungen kaum herauskommt und der Film nie müde wird zu betonen, wie kreativ und bedeutend Méliès doch war), auch wenn die in „Kundun" gezeigten Ausschnitte höchst bezaubernd anmuteten. Wie dem auch sei - zumindest ist Méliès nach „Hugo" wieder en vogue, was nicht das schlechteste ist.[1]
Von seinen zahlreichen Filmen sind es vor allem die längeren, die nachhaltigen Eindruck hinterlassen: „Le Voyage dans la lune" (1902) natürlich, aber auch „Jeanne D'Arc" (1900), „Le Royaume des fées" (1903) - einer seiner allerschönsten -, „Le Voyage à travers l'impossible" (1904), sowie die Klassiker „Les 400 farces du diable" (1904), „20000 lieues sous les mers" (1907) und „A la conquête du pôle" (1912)... Diese mögen nicht immer innovativer als die ein-, zweiminütigen Filme gewesen sein, verfügen allerdings über Ansätze einer dramaturgischen Struktur, über Zeitsprünge und/oder und Schauplatzwechsel, die ein wenig davon ablenken, dass Méliès mit seinen Filmen vor allem seine filmtechnisch getricksten Zauber-Kunststückchen vorführte (bestenfalls noch durch spaßige Slapstick-Nummern aufgelockert, wie in „Le Déshabillage impossible" (1900), wo die leidgeplagte Figur des Films nach Ablegen eines Kleidungsstückes dieses auf wundersame Weise wieder am Körper trägt, bis sie sich allmählich über immer hektischere Bocksprünge von den Textilien zu befreien versucht): Ob Stopptricks, Doppelbelichtung oder Unschärfe - Méliès stellte seine Effekte meistens in den Dienst der seltsamen Erscheinungen innerhalb seiner Filme, während Pioniere wie George Albert Smith oder David Wark Griffith die Filmsprache selbst durch Neuerungen vorantrieben. (Und man muss bloß mal die letzten längeren Filme von Méliès mit den zeitgleich entstandenen Filmen Griffiths vergleichen um festzustellen, wie plump Méliès die Montage zwischen den Einstellungen mitunter einsetzte -  während die Bildkompositionen und die Montage innerhalb des Bildes freilich überaus beeindruckend ausfielen.)

Dennoch ist es gerade der frühe "Le Chevalier mystère", ein scheinbar in statischer Einstellung gedrehter (per Stopptricks getrickster), knapp zweiminütiger Kurzfilm ohne Schauplatzwechsel oder nennenswerte Handlung, der sich seiner eigenen Medialität voll bewusst zu sein scheint: Auch hier konzentriert sich Méliès nicht auf die Filmsprache (was angesichts des Erscheinungsjahres auch nicht erwartet werden sollte), dafür aber (und das überrascht nicht minder) auf die Medialität des Films - wenngleich hier natürlich keine Theorie entfaltet wird, sondern bloß spielerische Hinweise gestreut werden).
Handlungsmäßig geschieht hier nicht viel: Ein Mann zeichnet einen Frauenkopf auf eine Tafel, entnimmt ihn dieser, spießt ihn auf ein Schwert, stellt ihn auf einen Photoapparat um das darunter stehende Stativ in ihren Körper zu verwandeln; dann wird sie noch kurzerhand weggefächert um schließlich ein Fingerschnippen später auf der anderen Seite wieder aufzutauchen, woraufhin ihr Schöpfer sie zurück an die Tafel schmeißt und letztlich von dieser abwischt.
Dass jedoch der Weg dieser Entstehungsgeschichte dieser Dame von der Zeichnung über die Photographie zum (filmtechnisch manipulierbaren) Körper führt, gerät bei aller Beiläufigkeit zum (unbewussten?) Kommentar auf das Medium. Méliès bringt hier zum einen die Entwicklung des Bildes ins Spiel, das zunächst die Darstellung in Malerei und Zeichnerei bezeichnete, später um die photographischen Abbildungen erweitert wurde und mit dem Kino zum Bild in Bewegung geriet.
Darüber hinaus ist nicht nur diese Geschichte einer Entwicklung des Bildes anwesend, sondern auch ansatzweise ein Vergleich dieser Stadien: Auch wenn die Bilder ständig in Bewegung sind und man das Entstehen der Kreidezeichnung als Bild in Bewegung präsentiert bekommt, bleibt das Resulat der Zeichnerei doch zunächst nur ein statisches Bild, das man innerhalb des bewegten Filmbildes zu sehen bekommt. Es ist ausgerechnet der Aspekt der Bühnenshow, durch den diese filmische Selbstreflexion nachdrückliche Betonung erlangt: während in anderen Méliès-Filmchen dieser Aspekt (der Mann, der vor einem einzigen Hintergrund seine Kunststückchen vorführt) eher die Wirkung hatte, dass die entsprechenden Filme wie reine Akte des (mit Stopptricks gefaketen) Dokumentierens wirkten, da bewirkt er hier, dass sich das Medium selbst deutlicher bemerkbar macht. Denn was Méliès hier als Hauptdarsteller des Films präsentiert, das sind unter anderem die Kreidezeichnung und der Photoapparat (wenn auch keine Photographie); durch diese sehr bühnenshowartige Präsentation der früheren Stadien des nun in Bewegung geratenen Bildes tritt diese Differenz (die neu hinzugekommene Bewegung) ins Bewusstsein und Méliès als Hauptdarsteller ist hier nicht bloß - wie üblich - der Zauberer auf der Bühne, sondern ausdrücklich ein bewegtes Bild, das seine Geschichte, seine Vorstufen erkundet.
Das alles zielt auf keinerlei höhere Erkenntnis ab, es gibt keine Fakten, keine Theorie. Dass jedoch Zeichentafel und Photoapparat als zentrale Gegenstände Verwendung finden, ist sicher kein Zufall: 1899 war der Film trotz seiner zumindest vierjährigen Existenz zu sehr eine kuriose Neuerung, als dass man Photographie und Zeichnung (schnell hintereinander im Film präsentiert) nicht sofort als Vorgeschichte registriert hätte. Man kann davon ausgehen, dass Méliès die Vorgänger der Abbildungsmöglichkeiten nicht rein zufällig ins Spiel gebracht hat, es lässt sich aber nur mutmaßen, wie ernst ihm dieser Aspekt war; vermutlich war es 1899 unvorstellbar, dass solch ein Film über hundert Jahre Filmgeschichte später geradezu ungeheuerlich selbstbewusst und -reflexiv müsste.[2]
Unter solchen Bedingungen muten auch die späteren Méliès-Filme über zum Leben erwachende Zeichnungen und Malereien ungemein selbstbewusst an (Vier Jahre später liefert Méliès mit "La Lanterne magique" sogar eine Art Film-im-Film ab): Wenn die Kartenspiel-Dame in „Les Cartes vivantes" (1904) oder die Plakat-Malereien im geradezu anarchisch-heiteren „Les Affiches en goguette" (1906) (man muss es sich mal auf der Zunge zergehen lassen: die Werbefiguren für allerlei leibliche Genüsse geraten - gleichsam als Personifizierungen dieser Genüsse - in Bewegung und treiben allerlei Schindluder mit gehobenem Bürgertum und der Polizei) lebendig werden und teilweise aus dem Plakat heraushüpfen, dann wirkt sowas fast schon wie eine metaphorisch nachgestellte Geburtsstunde der bewegten Bilder.

Womöglich können sogar die lebendig werdenden Bildhauereien, die etwa in „La Statue animée" (1903) in Bewegung geraten, solche Assoziationen erwecken, wenngleich die Plastik freilich über eine Dreidimensionalität verfügt, die selbst dem 3D-Film noch abgeht. Es ist daher vielleicht die konsequente Fortführung eines Méliès-Kinos, dass Scorsese seinen „Hugo" als 3D-Film herausbrachte. Es ist - trotz des gerade angesprochenen selbstreflexiven Aspekts - gerade dieser Spektakel-Charakter, der die Filme von Méliès charakterisiert, der mit seinen letzten Filmen unter Beweis stellte, dass er im Hinblick auf die Montage eines narrativen Kinos nicht unbedingt zu den geschicktesten Regisseuren zählte, wenngleich Ausstattung und Trickeffekte nach wie vor vorbildlich wirkten.[3] "A la conquête du pôle" gibt als letzter großer Méliès-Klassiker ein gutes Bild von dieser - im Rückblick geradezu rührig anmutenden - Schwäche: Gerade einmal die Richtung der Ab- und Auftritte der Akteure in aneinander anknüpfenden Einstellungen wird recht konsequent von Méliès im Auge behalten; ansonsten werden die Einstellungen kaum jemals wirkungsvoll gekittet - nur wenige Einstellungen bilden zusammen überhaupt im Zusammenspiel ganze Szenen, auf unterschiedliche Einstellungsgrößen innerhalb einer Szene wird verzichtet. Mehrfach stehen die Einstellungen auch bloß für sich selbst: so etwa die am Himmel vorüberziehenden Flugapparate, die im Mittelteil des Films eine lange Einstellung füllen, in der die kurioseren Fluggeräte jeweils besonders auffällig und lange im Mittelpunkt des Bildes umhertrudeln. Einzig die Reise und Landung der Hauptfiguren gerät Méliès halbwegs interessant, indem er den Flug der Flugmaschine und die umhertaumelnden Figuren im Inneren dreimal einander folgen lässt, um zu Beginn der Landung von der Seitenansicht in die Vorderansicht zu wechseln und bei Ende der Landung wieder in die Seitenansicht überzugehen. Dann schließlich kommt das Finale, eine reine Méliès-Nummer: ein einziges Bühnenbild, in dem sich fünf Figuren mit dem mechanisch bewegten Schneeriesen abplagen, der einen von ihnen verspeist (und später unbeschadet ausspuckt). Die ganze Aktion (man könnte ruhig von Action sprechen) wird in einer scheinbar einzigen Einstellung über Minuten hinweg verfolgt und Méliès setzt nur dort auf (kaschierte) Schnitte, wo es den Trickeffekten dienlich ist. Die danach folgende Szene des Erreichens des eigentlichen Polgebietes verfährt ebenso, wobei man hier - wäre man böswillig - schon von unfeinen Anschlussfehlern bei manchen Stopptrick-Schnitten sprechen könnte. Dagegen verschränkt Griffith etwa 1911 in „Enoch Arden" in seinen Szenen viel häufiger verschiedene Einstellungen miteinander (und räumt einer klammernden Parallelmontage großen Raum ein), greift in der hochemotional (oder auch: sentimental) aufgeladenen Abschiedsszene auf eine Großaufnahme der einander in die Arme schließenden Liebenden zurück und weiß in nahezu jeder Einstellung eine Bildkomposition zu finden, die den zur Verfügung stehenden Raum (der oftmals schon erstaunlich clever in die Tiefe des Bildes führt) sehr gezielt ausnutzt[4]: kindlich-naiv muss dagegen die mélièssche Bühne anmuten, die als randvoll aufgefüllter Schaukasten allerlei Ereignisse präsentiert, ohne den Bildern einen dramatischen Effekt abringen zu können - hier herrscht die blanke Lust am ausgelassenen Toben und Spielen, von einer dramatisch genutzen Bildgestaltung so gut wie keine Spur... (Und dennoch: das in den Einstellungen festgehalten Effekt-Spektakel verliert seinen eigentümlichen Reiz dadurch nicht; eher schon verschafft dieser bereits 1912 etwas altbackene Stil den Bildern eine überaus naive Lieblichkeit, aus der Méliès seinen zutiefst intimen Charme zu ziehen wusste.)

Bei einem vergleichsweise frühen Handlungsfilm fielen solche Umstände kaum ins Gewicht, da es im kinematographischen Umfeld in dieser Hinsicht kaum Konkurrenz gab (auch wenn Edwin S. Porter mit seinen Bemühungen im Hinblick auf die Parallelmontage schon einige Erfolge verbuchen konnte.) "Le Royaume des fées" besitzt bereits alle Schauwerte einer mélièsschen Großproduktion und ist mit seiner Montage angesichts des Entstehungsjahres vollkommen - wie man so schön sagt - auf der Höhe seiner Zeit. Die Geschichte einer alten Hexe, die eine junge Prinzessin von Dämonen und einer horriblen Kutsche entführen lässt, lässt Méliès ausreichend Platz für eine phantastische Jagd durch allerlei wundervolle Schauplätze, die - wie schon im Erfolg des Vorjahres „Le Voyage dans la lune" - unter Wasser allmählich ihren Ausklang findet: Es ist der frisch Verlobte der Prinzessin, der in der Nacht die Schreie der Entführten vernimmt und sofort ein paar wackere Kerle zusammentrommelt. Doch bevor er mit diesen seinen Befreieungsschlag führen kann, erscheint ihm die alte Hexe und gaukelt ihm den ergebnislosen Ausgang seiner Bemühungen vor: per Überblendung lässt Méliès den Hintergrund wechseln, bis beide Figuren vor der hübschen Kulisse einer teuflischen und nahezu unzugänglichen Festung stehen, in die man die Entführte zu sperren gedenkt. Doch mit der Hilfe einer guten Fee macht er sich auf die Reise: über Wasser und unter Wasser (und es sind mit die schönsten, aufwendigsten UnterwasserSzenen, die Méliès hier vorgaukelt), wo man noch die Hilfe Neptuns erhält, bis er schließlich an sein Ziel gelangt. Dort lässt Méliès die Hexe noch ein Feuer entfachen, ehe man sie im Meer versenken, den Flammen entkommen und schließlich heiraten kann. Trotz der Episodenhaftigkeit des Ganzen arbeitet Méliès hier mit einem für seine Verhältnisse überaus geschlossenen Spannungsbogen, in welchem nicht nur eine Vielzahl unterschiedlichster Kulissen Verwendung finden, sondern auch zahlreiche Trickeffekte: eine Hexe, die dem Erdboden entwächst, eine Kutsche, die vor Zuschauern durch den Himmel zieht, zahlreiche Erscheinungen, überaus sorgfältige Modell-Aufnahmen mit mechanisch bewegten Wolkenformationen am Himmel, bis ins Detail ausgearbeitete Darstellungen von Unterwasser-Szenen (mit Tintenfisch-Modellen, echten Fischen und Hummern, den üblichen gemalten Kulissen, die sich hier jedoch teilweise in verschiedenen Ebenen überlappen, und dem Einsatz der Doppelbelichtung) und freilich das Herzstück des Films - der von der Hexe erzeugte Blick auf ein anderswo stattfindendes Geschehen. Diese Szene eröffnet im Prinzip sogar die Möglichkeiten, im Film gleichzeitige Ereignis an verschiedenen Orten miteinander zu einer Geschichte zu montieren, geht aber den entscheidenden Schritt noch nicht, indem die zwei Figuren der vorherigen Einstellung vorhanden bleiben und sich der neue Hintergrund wie eine Erscheinung um sie herum aufbaut. (Méliès variiert hier ein dramaturgisches Mittel, das mit Ferdinand Zeccas „Histoire d'un crime" (1901) populär geworden ist: dort sieht ein verurteilter Verbrecher seiner Hinrichtung entgegen, während auf seiner Zellenwand Stationen seines Lebens ablaufen, ehe er am nächsten Morgen geköpft wird. Was Zecca noch mit einer zweiten Bühne bewerkstelligte, die er etwas höher hinter der - an entsprechender Stelle geöffneten - Zellenwand aufbauen ließ, imitierte Méliès seinerseits fünf Jahre später in seiner eigenen Version dieses Stoffes „Les Incendiaires" (1906), wo er jedoch die zwei Räume im Bild ebenfalls mittels Doppelbelichtungstricks ineinander übergehen ließ.)

Méliès begann also insgesamt als Pionier und endete schließlich als manieristischer, altbacken erscheinender Imitator des eigenen Werkes, der in seinen Filmen seinen Hang zur Bühne nie unterdrückte: Schwäche und Stärke seines Werkes zugleich.
9/10 für seinen erstaunlich reflexiven frühen „Le Chevalier mystère".
8,5/10 für seinen späten, naiven „A la conquête du pôle".
10/10 für die phantasievoll aufgeladene Nummernrevue „Le Royaume des fées".


1.) Wieder halbwegs kommerziell verwertbar geworden, kam hierzulande auch sofort eine zu erwartende DVD-Veröffentlichung von Méliès-Filmchen auf den Markt; auch wenn man da eher eine Liebe zum Kommerz als eine Liebe zum Kino vermuten möchte, ist dies dennoch eine lohnenswerte Möglichkeit, die Méliès-Sammlung im Regal zu komplettieren.
2.) Die Pioniere, die den Film als erste erheblich voranbrachten, wunderten sich später nicht selten über die Aufmerksamkeit, die ihnen für Erfindungen & Entdeckungen zuteil wurde, welche sie selbst als unwahrscheinlich naheliegend und unwichtig erachteten.
3.) Man kann es ruhig in Erwägung ziehen: Womöglich hing Méliès nachlassender kommerzieller Erfolg nicht einfach bloß damit zusammen, dass er eine ihn plagiierende Konkurrenz bekommen habe und mancherlei in Mode gekommene Motive nicht genügend aufgegriffen habe, sondern auch damit, dass seine Form filmischen Erzählens bei aller Poesie in manchen Einzelszenen doch einen Beigeschmack mangelnder Eleganz besaß, der schon zur Entstehungszeit nostalgisch oder altbacken anmutete.
4.) Und dennoch verdankte Griffith Méliès viel; oder - wie er selbst sich ausdrückte - sogar alles. Trotz des mit der Zeit immer offensichtlicher werdenden fehlenden filmsprachlichen Raffinements haben Méliès mit der Zeit immer ausuferndere Bemühungen, Filme mit narrativem Handlungsablauf zu produzieren (die zuletzt durchaus bei halbstündigen Filmen ankamen) auch einem Griffith Pate gestanden.

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