Review

Ein guter Freund hat mir diesen Film empfohlen, doch ich wehrte mich eine Zeit lang, mir ihn anzuschauen. Zum einen wurde das Siegburg-Drama, in dem drei jugendliche Häftlinge ihren vierten Mitinsassen stundenlang folterten und anschließend durch einen Strang erhängten, von Dr. Uwe Boll schon (in meinen Augen) sehr gut verfilmt worden. Zum anderen gibt es selten einen Film aus Deutschland, der mir mehr als ein müdes Lächeln entlocken kann. Wo uns andere europäische Länder meilenweit voraus sind (Frankreich, Belgien, Norwegen, Schweden, um mal einige zu nennen), drehen wir anstatt verstörende oder blutige Filme immer wieder den gleichen Stoff ab. Seichte Komödienunterhaltung.

Hätte ich mal besser und auch schon früher auf meinen Buddy gehört, denn Bolls "Siegburg" und der hier vorliegende "Picco" behandeln zwar das gleiche Thema. Dennoch sind beide Welten auseinander entfernt, was den eigentlichen Inhalt und seine Wirkung angeht. Während sich Bolls Beitrag lediglich nur auf die drei Täter und die Opferrolle konzentriert und hierbei mit derben Gewalt-Effekten die Verstörung im Kopf des Zuschauers hervorruft (Das Bollwerk ist deswegen in Deutschland nicht ungeschitten erhältlich), konzentriert sich Phlip Kochs Beitrag zuerst einmal um den Alltag des Gefängnisleben unter Jugendlichen, bevor er in die Vollen geht.
 


Der Neuling Kevin (Constantin Von Jascheroff) tritt wegen Körperverletzung seine Haft in der JVA an. Er wird in Zelle 10 gesteckt, in der die Häftlinge Marc (Frederick Lau), Andy (Martin Kiefer) und  Tommy (Joel Basman) ihre Haftstrafe absitzen. Der sensible und durchaus intelligente Kevin wird von seinen neuen Freunden Picco genannt: Ein Neuling, bzw. abwertend gemeint, ein Sklave, eine Putzfrau für alles. Weder in seiner Zelle, weder bei den Arbeitsstunden noch beim Freigang auf dem Hof findet er sich zurecht, denn er muss lernen, dass in dieser Welt die Uhren anders ticken, als in der freien Gesellschaft. Echte Freunde oder moralische Grundwerte existieren hier nicht. Briefgeheiminisse gibt es auch nicht. Das Ausmaß einer unfreiwilligen Brieföffnung bekommt  Juli (Willi Gerke) zu spüren, als durch diesen Brief herauskommt, dass er auf dem Schwulenstrich verhaftet wurde. Kevin und Zellengenosse Tommy werden daraufhin Zeuge, wie Juli von einem Mitinsassen vergewaltigt wird. Kevin, der immer noch an das Gute im Menschen glaubt, rasselt danach mit Tommy aneinander, der ihm sagt, dass es besser ist, bei so etwas wegzuschauen, da jeder für sich selber verantwortlich ist. Kevin, der in seiner Zelle immer noch der Picco ist, sieht ein, dass, wenn er nicht seine ethischen Gedanken ausschaltet, auch bald ein Opfer sein wird. Das Blatt wendet sich dramatisch in Zelle 10.



Das hochintensive Drama "Picco" kommt gänzlich ohne Musik (lediglich amerikanischer Hip Hop oder Metal kommt ein paar mal aus dem Radio in der Zelle. Jedoch untermalt die Musik zu keiner Zeit das Geschehen) oder brachiale Szenen aus, sondern zieht seine Spannung aus der langsamen Erzählweise. Stück für Stück sehen wir mehr aus dem faszinierenden Alltag in einer JVA, und zeitgleich sehen wir die Entwicklung der Charaktere. Hierbei wird auch großartig in leisen Tönen Kritik an unseren Justizvollzugsanstalten an den Mann gebracht - von den dortigen Gefängniswärten über die Psychologin (Jule Gartzke) wird zwar nicht weggeschaut. Aber man spürt deutlich, dass sich aufgrund mangelnder Personalanzahl die bösartigen Triebe der Insassen nahezu ungestört ausgelebt werden können, bzw. das Personal mit der Zeit selbst etwas abgestumpft wirkt.

Ich war zwar noch nie im Knast, da ich kein Konto in der Schweiz habe, aber genauso stelle ich mir den Gefängnisalltag vor. Einen Bärenanteil an der absolut realistischen Darstellung haben vorallem die großartigen Schauspieler, allen voran Psycho Marc (Frederick Lau), der von einer Sekunde auf die andere, vom gut gelaunten Brummbär zum absoluten Berzerker wird. Die Gossensprache und gerade, weil dies ein deutscher Film ist und somit nicht synchronisiert worden ist, wirkt alles noch depremierender und realistischer als es eh schon ist.

Eines wird beim Anschauen dem Zuschauer klar: Im Jugendknast zählen keine moralischen Werte - nur der Stärkste gewinnt und überlebt. Die Hackordnung bestimmt den Alltag und zerbrechliche Gestalten werden trotz Medikamenten in den Wahnsinn getrieben. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht entscheiden, in welchem Knast die Psyche mehr leiden muss: Im Knast der Erwachsenen oder eben hier. Der Alltag ist grausam, so dass manche Insassen nachts Panikattacken bekommen und psychisch fast zu Grunde gehen. Ein Selbstmord zeigt eindrucksvoll, dass dieser unglaubliche, unmenschliche Druck auch Leute gänzlich zerbrechen lässt. Quasi nach dem Motto: Ich wähle lieber den Freitod als noch einen Tag länger hier zu ertragen. Aufseher Falter (Matthias Kupfer) hakt dies unter "So etwas passiert eben nun einmal und man kann nichts dagegen machen." ab, wobei unser deutsches System mal wieder eine herbe Kritik einstecken muss.

Obwohl das System immer wieder solchen Nadelstichen ausgesetzt wird, liegt der Schwerpunkt bei den Entwicklungen der Figuren. Solch eine Entwicklung zum ganz anderen Mensch macht auch unser sympathischer Hauptdarsteller Kevin durch, der seine moralischen Grundwerte irgendwann ad acta legt und sich dem Leben "hier drin" anpasst. Dies hat dramatische Folgen und löst diese Kettenreaktion aus, die zu dem Mord führen.
Die letzte halbe Stunde des Films kommt nahe an Elemente des Terrorfilms ran, ohne dabei auch nur irgendein Anzeichen von Blutspitzen zu hinterlassen. Die Mimik und die Handlungen der Protagonisten, die  im Domino-Effekt folgen,  sprechen für sich und lassen so manche  Splatter-Bomben ziemlich blöd aussehen. 

Die einzige Kritik die ich an dieses Werk habe ist, dass es mit 107 Minuten zu kurz war. Hier hätte man noch eine Stunde draufquetschen können, was jedoch das Mainstream-Publikum abgeschreckt hätte. Wobei, können wir bei "Picco" überhaupt von Mainstream sprechen? Ich denke eher nicht - denn dieser Film ist ja kein "Hangover" oder "The Avengers" und wird somit von der breiten Fastfood-Masse links liegen gelassen. So wie von mir, wenn ich nicht diesen guten Freund hätte...

Okay, ein kleiner weiterer Kritikpukt ist der Domino-Effekt im Schlusskapitel. Hier agieren die drei Mörder schon beinahe wie Roboter. Ohne einmal das Hirn anzuschalten wird gehandelt und von keiner Person hinterhergefragt, ob das richtig ist (was für eine Frage), die Person in den unfreiwilligen Tod zu treiben. Bei dem Psychopathen Marc sehe ich keine Chancen. Auch von dem boshaften und komplett gefühlsfreien Andy (der etwas blass agiert) hab ich da keine Hoffnungen gesehen. Jedoch bei unserem sympathischen Kevin. Aber okay, es handelt sich eben um eine wahre Geschichte und wenn man Regisseur Phlip Koch was vorwerfen kann, dann ist es eben genau der Charakter "Kevin", der vielleicht anfangs doch zu gutmütich beschrieben wird, um im letzten Akt zu hundert Prozent authentisch zu wirken. Aber wer weiß schon, wie man sich selber in solch einer Extremsituation verhalten würde/könnte?


"Picco" ist ganz großes Kino aus Deutschland. Ein sehr intensives Drama um die Ereignisse von Siegburg mit überzeugenden Darstellern, einer äußerst glaubhaften Story und Location. Auf solche Werke können wir stolz sein. „Picco“ ist beklemmend bis zur Unerträglichkeit. Nur wenn wir solche Werke selber nicht wahrnehmen (und irgendwo gehöre ich ja teilweise dazu), wird es aus unserem Land immer wieder solche Fremdschäm-Nummern wie "Traumschiff Surprise" oder seichte Komödien/Dramen geben. Dafür müsste sich das Konsumenten-Verhalten ändern, was ich der "I like"- und Smartphone-Gesellschaft nicht zutraue.
"Picco" ist knallhart und ich mahne, so wie mein Kumpel, jeden von euch, der das anspruchsvolle Kino liebt, sich mal dieses Werk zu gönnen. 38 ofdb-Bewertungen von einem 2010er-Film sagen sehr viel dazu aus.

9/10

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