Der orthodoxe Jude Aaron erbt die Fleischerei seines Vaters in einem Stadtviertel Jerusalems, in dem offenbar ausschließlich orthodoxe Juden leben. Die Nachbarschaft gleicht einem lebendem Überwachungssystem: Jeder beobachtet jeden, jeder achtet penibel auf die Einhaltung der ehtischen Regeln der Religion. Verstöße werden geächtet. Der Film kreiert auf brillante Weise eine erdrückende Atmosphäre der allgegenwärtigen Beobachtung sowie der persönlichen Unfreiheit des Einzelnen innerhalb dieser Gesellschaft.
Als der Familienvater Aaron einem im Leben verirrten jungen Mann, Ezri, Unterkunft und Arbeit in seiner Fleischerei gewährt, wird schnell deutlich, dass die beiden Männer Gefühle füreinander entwickeln. Aaron versucht diese krampfhaft zu unterdrücken, weil er sich als offenbar tief gläubiger Mensch den Grundsätzen seiner Religion und den Regeln seiner Gemeinde verpflichtet fühlt. Er sieht den Glauben als harten, steinigen Weg, der viel Disziplin und Unterdrückung von persönlichen Gelüsten verlange. Als er irgendwann dennoch nicht anders kann als mit Ezri eine heimliche Liebesbeziehung einzugehen und seiner Lust nachzugeben, spricht sich das in der allsehenden Nachbarschaft schnell herum und die beiden Männer werden das Ziel von gesellschaftlichen Repressionen, aggressiven Mobs und einem Boykott der Fleischerei.
Nichtsdestotrotz: Beachtlich an "Eyes Wide Open" ist, dass hier keine einseitige Anprangerung religiösen Fanatismus betrieben wird. Es ist kein wirklicher Kritik-Film, sondern eher ein Konflikt-Film: Der Protagonist Aaron trägt einen schmerzhaften inneren Konflikt zwischen seiner Religion und seinen Gefühlen für Ezri aus. Beides bedeutet ihm viel. Aber Beides kann er nicht miteinander verbinden, weil Zweites durch die Grundsätze von Erstem ausgeschlossen ist. Diese deprimierende Erknenntnis der Unvereinbarkeit und des Zwangs, sich zwischen den beiden Dingen entscheiden zu müssen, ist das eigentliche Kernstück des Films.
In einem kleinen Nebenstrang wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der eine Frau liebt, die aber in einer von der Gemeinde arrangierten Hochzeit einen anderen Mann heiraten muss. So wird der junge Liebhaber (der zu allem Überfluss einen streng verbotenen Fernseher in seinem Kleiderschrank versteckt hält) mit Gewalt daran gehindert, seine Angebetete weiter zu sehen. Immer wieder zeigt "Eyes Wide Open" krassen Eingriff der Gemeinschaft in die Privatsphäre des Einzelnen, was mit der Einhaltung religiöser Grundsätze gerechtfertigt wird.
Ganz famos ist natürlich die Inszenierung. Konstante gedrückte Stimmung. Sehr strenge, kalte Bilder, die sich sofort einprägen. Die karge Fleischerei. Das Gehen durch die engen, gefängnisartigen Gassen des Stadtviertels. Schwarzgekleidete Männer, die den Weg versperren. Nicht mal auf der Dachterrasse ist man unbeobachtet; gegenüber geht eine Fensterlade auf. Die Kälte und Stenge des Films schafft eine beklemmende, fast schon horrorhafte Stimmung. Zudem frage ich mich, ob gewisse Bilder (wie das Baden im See) vielleicht eine religiöse Symbolik besitzen, aber da ich mit Religion egal welcher Art gar nichts am Hut habe, kann ich darüber nur spekulieren.
Herausragend ist Zohar Shtrauss in der Rolle des Aaron, der mit gleichsam intensivem wie subtilen Minenspiel das Innere seiner Figur präzise und nachfühlbar darstellt. Nett hingegen Tinkerbell in der Rolle der betrogenen Ehefrau, die hier sehr an Scarlett Johansson in "Girl with a pearl earring" erinnert, was sehr sympathisch ist.
Summa Summarum kein angenehmer, aber ein beachtlicher Film, der seine Thematik und zentrale Fragestellung klug herausarbeitet und inszenatorisch sehr eindrücklich umsetzt.