Das die Wahl Oskar Roehlers auf den Nazi - Propagandafilm "Jud Süß" fiel, war nur folgerichtig, denn kein Werk dieser Phase verfügt noch heute über einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad. Dagegen ist Ferdinand Marian, der Darsteller der Titelrolle, inzwischen in Vergessenheit geraten, obwohl gerade seiner schauspielerischen Leistung ein Großteil des Verdienstes gebührt, dass "Jud Süß" aus der Masse der Propagandafilme heraus stach, in seiner besonders perfiden, unterschwelligen Erzeugung von Hass gegenüber den Juden.
Der Film selbst - auch wenn es der Titel suggeriert - steht nicht im Mittelpunkt des Geschehens, sondern der Mensch Ferdinand Marian (Tobias Moretti). Dieser befand sich als Schauspieler noch am Beginn seiner Karriere, weigerte sich zuerst - wie zuvor schon bekanntere Kollegen - die Rolle des "Jud Süß" anzunehmen, um sie dann, nachdem Joseph Goebbels (Moritz Bleibtreu) ihn dazu gezwungen hatte, so sympathisch wie möglich anzulegen. Erst durch dessen menschlich nachvollziehbare Charakterisierung der Hauptfigur, erlangte der Film jene Subtilität, mit der Goebbels seine Botschaft unters Volk bringen wollte, ohne dass man "Jud Süß" gleich die Propagandamaschinerie anmerkte.
So weit zumindest die Legende, denn die genauen Umstände von Marians Zusage und das Zustandekommen seiner Rollengestaltung lassen sich nicht mehr exakt rekonstruieren. Oskar Roehler nutzt diese Vorgaben, um die Figur "Ferdinand Marian" frei zu interpretieren und schreckt dabei auch nicht vor der Änderung historischer Tatsachen zurück. Schon zu Beginn, als Goebbels nach der gelungenen Generalprobe von Shakespeares "Othello" zwar begeistert von Marians Interpretation des Jago ist, aber danach die Aufführung verbietet und den jüdischen Darsteller des Othello, Wilhelm Deutscher (Heribert Sasse), mit einem Berufsverbot belegt, verändert Roehler die Geschichte, denn tatsächlich trat Marian Ende der 30er Jahre sehr erfolgreich als Jago auf.
Es wird deutlich, dass Roehler weniger an einer authentischen Charakterisierung Marians interessiert ist, als an der Stilisierung eines Menschen im Konflikt zwischen Mitgefühl und Verführung. Um diesen Zwiespalt stärker herauszuarbeiten, erfindet er Marians halbjüdische Ehefrau Anna (Martina Gedeck) und lässt ihn den jüdischen Kollegen Deutscher als angeblichen Gärtner in seinem Gartenhaus verstecken. Damit erhöht er den Druck auf Marian, dessen Ehefrau die perfiden Absichten des Films schon am Drehbuch erkennt, worauf er Goebbels mit einer theatralischen Geste absagt. Doch diese Konsequenz hält er nicht durch, als Goebbels ihn einfach vor vollendete Tatsachen stellt.
Roehler betont diese Konstellation noch, indem er quasi mit dem Holzhammer bekannte Nazi-Klischees auffährt. Das blonde Hausmädchen Britta (Anna Unterberger) mit dem strammen SS-Schergen Lutz (Robert Stadlober) an ihrer Seite, der dröhnende, Menschen verachtende Lagerkommandant und seine geile Ehefrau (Gudrun Landgrebe), die es am liebsten mit Juden treibt - und über allem schwebend, Moritz Bleibtreu als Goebbels Karikatur, die sich abwechselnd durch die Kulissen schleimt oder schreit, immer das große Ganze im Auge. Und dabei wird jede Gelegenheit der strammen Uniformträger und zukünftigen Mutterkreuz - Empfängerinnen zum Sex genutzt - Deutschland, ein einig Volk von Promiskuitiven.
Einzig Tobias Moretti bleibt als schwächelnder Mensch, der zwischen seiner Eitelkeit und seinem Gewissen schlingert, ambivalent in diesem Panoptikum, doch was will Roehler damit vermitteln? – Als Prototyp eines verführbaren Menschen kann er nicht gelten, denn dafür bleibt er doch zu nah an der realen Person Ferdinand Marian. Vor dem Film „Jud Süß“, den Roehler teils mit nachgespielten, teils mit Originalausschnitten einblendet, muss heute auch Niemand mehr gewarnt werden, weshalb der Zusatz „Film ohne Gewissen“ unnötig wirkt.
Und warum betreibt Roehler Geschichtsverfälschung bis zum gefakten Selbstmord Marians, obwohl dieser bei seinem Unfalltod zwei Mitfahrer im Auto hatte, die überlebten, konfrontiert ihn zusätzlich mit einer satirisch angelegten Goebbelsfigur, um Tobias Moretti gleichzeitig die glaubwürdige Darstellung eines Menschen abzuverlangen, der an seinen inneren Konflikten zerbricht? – „Jud Süß - Film ohne Gewissen“ hinterlässt einen uneinheitlichen Eindruck, der zudem die Subtilität vermissen lässt, um die Goebbels bei „Jud Süß“ so bemüht war. Roehlers Film veranschaulicht mit dieser inszenatorischen Grobheit das wahre innere Abbild eines Propagandafilms wie „Jud Süß“ und bleibt trotz des Verzichts auf diverse historische Wahrheiten unmissverständlich.
Im Detail lassen sich sicherlich einige Kritikpunkte finden, aber Roehler muss man Mut bescheinigen, eine solche stark mit Erwartungshaltungen besetzte Thematik so unterhaltend umzusetzen, ohne sie zu verharmlosen. Unterschwellig spürt man zudem seine Sympathie für einen im Inneren unsicheren Menschen wie Ferdinand Marian, besonders in dem immer wieder zitierten Zarah Leander Lied „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“ aus „La Habanera“. Dort gelang Marian die glaubwürdige Darstellung eines Mannes, der in seiner kompromisslosen Haltung zuerst dem klassischen Feindbild entsprach, sich letztlich aber als der tiefgründigste und wahrhaftigste Charakter erweist – die entgegen gesetzte Entwicklung zu „Jud Süß“. (6/10)