Vor vielen Jahren habe ich mal Marcel Camus‘ ORFEU NEGRO gesehen, eine im Brasilien der Gegenwart angesiedelte Nacherzählung der griechischen Sage von Orpheus und Eurydike, die zwar rein prinzipiell ein modernes Setting hat und mit den Metaphern der Moderne auch umgeht, in ihrer Diktion und der Stimmung dabei aber ein reines Märchen ist. Ein Film, der gerade mit dieser Ambivalenz aus heutiger Großstadt und altem Märchen verzaubert und eine ganz eigene und wunder-bare und schwermütige Atmosphäre erschafft.
UNTER DEN BRÜCKEN zeigt sich als ebenso großes Märchen wie ORFEU NEGRO. Gedreht 1944 und uraufgeführt 1946, schafft Regisseur Helmut Käutner es scheinbar mühelos, Krieg, Zerstörung und Tod auszublenden und in einer zeitlos wirkenden Umgebung eine Geschichte über Freundschaft und Liebe, über Sehnsucht und Zusammenhalt zu erzählen.
Hendrik und Willy sind Flussschiffer. Enge Freunde, die nicht voneinander weichen und die am Seil eines Schleppers über die Flüsse Europas gezogen werden und Fracht von hier nach dort bringen. Sie sind mit ihrem Leben zufrieden, aber eines fehlt halt doch: Beide sehnen sich nach einer Frau an ihrer Seite. Wenn sie unter den Brücken hindurch fahren sehen sie, wie oben die Mädchen und Frauen stehen und ihnen nachschauen. Vielleicht voller Sehnsucht, vielleicht auch voller Neugierde, aber Hendrik und Willy werden hilflos weitergezogen und ihre kurzen Träume verschwinden schnell einmal hinter der nächsten Flussbiegung, wo wieder ein Mädchen auf einer Brücke stehen wird. Ob es ihnen zuwinken wird? Ob es schimpft? Das ist gleich, Willy und Hendrik werden es nie erfahren …
Eines Abends lernen sie Anna kennen, die sich vermeintlich von einer Brücke stürzen will. Hendrik bringt die junge Frau auf den Kahn, und gemeinsam fährt man von Potsdam nach Berlin. Eine kurze Strecke nur, aber es reicht, dass sie sich ineinander verlieben. Was nichts anderes heißen soll, als dass Hendrik sich verliebt, und dass Willy sich verliebt. Und Anna? Anna geht in ihre Wohnung, und keiner der beiden Freunde weiß wo diese Wohnung sein soll. Aber sie finden es heraus, und es beginnt ein Wettbewerb zwischen den Freunden: Wer bei Anna zum Zuge kommt geht vom Kahn, der andere bleibt.
Doch bis zu diesem tragischen Moment schippern wir mit großen glänzenden Augen durch die Flusslandschaften des Havellandes, sehen die alten deutschen Städte in ihrer modernen Pracht, und schauen zu, wie die Freundschaft zwischen den Männern unter der Bürde der Liebe zur gleichen Frau zu zerbröckeln beginnt. Haltet ein, möchte man ihnen zurufen, bleibt zusammen, mit den Frauen werdet ihr doch nur unglücklich, und hilflos muss man mitansehen wie Hendrik und Willy in ihr Unglück rennen. Aus Liebe, so wie Orpheus in die Unterwelt und damit in sein Verderben geht. Aus Liebe.
Anders als ich ursprünglich dachte, ist UNTER DEN BRÜCKEN kein Trümmerfilm, und auch kein später Propagandafilm. Gerade in den letzten Kriegsjahren wollten die Menschen in den noch verbliebenen Kinos nicht die Realität sehen, sondern vor dem Bombenhagel und dem Terror des Naziregimes in eine heile Welt flüchten. Käutner schafft hier das Kunststück, nicht nur das romantisierte Bild eines heilen Deutschlands zu erschaffen, sondern dies so geschickt in eine Märchen- und Wunderwelt einzubinden, dass etwas wie ein Zeitbezug völlig verloren geht. Hendrik, Willy, Anna und ihr Kahn – Etwas anders existiert nicht und wird auch niemals existieren. Eine zutiefst liebenswerte Welt, in welcher der Skipper morgens noch schnell Brötchen holt, eine umsonst geschlachtete Gans keinen finanziellen Verlust bedeutet, und Kunst etwas ist, was sich in selbstgemalten Efeuranken und Herzen an der Wand der Kajüte erschöpft.
Das mag vielleicht ein wenig abfällig klingen, ist aber nicht so gemeint! Auch heute noch funktioniert diese Traumwelt, genauso wie sie in ORFEU NEGRO funktioniert. Auch heute noch kann man zwar die Geschichte an sich in einer im heute angesiedelten Welt genießen, aber alles Unglück und alles Weh werden wie von Zauberhand ausgefiltert und zu etwas moduliert, was einem Märchenland verdammt nahe kommt. Ich meine, der Film ist 1944 gedreht worden, und die Drehorte wurden pragmatisch daran angepasst wo gerade Bomben gefallen waren und wo nicht. Wir sehen keine Verdunklung und keinen Fliegeralarm, in den Städten leuchten die Reklamen, Züge fahren über Brücken, und Fracht, bestehend aus Fässern und Kisten, kann problemlos von Berlin bis nach Rotterdam verbracht werden. Eine kleine Wunderwelt, ein in sich geschlossener Raum in dem Frieden und Licht die beherrschende Elemente sind, und die Liebe die Menschen nur temporär entzweit.
UINTER DEN BRÜCKEN ist etwas zum Träumen. Zum Liebhaben. Zum in den Arm nehmen und auf eine bessere Zeit hoffen. Der Teddybär unter den Filmen. Ist das etwas Schlechtes? Nein, es ist der Grund warum wir Menschen uns seit Anbeginn der Zeit Geschichten erzählen – Um uns Mut zu machen, und um an etwas Wahres und Gutes glauben zu können. Vielleicht ist der Film gerade zu Beginn der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts etwas, was uns wieder hoffen lässt, mit dem Ukrainekrieg, dem Krieg in Israel und all den doofen Pandemien in Europa. UNTER DEN BRÜCKEN ist ein schöner Film, der zum Träumen einlädt, ohne einen bitteren Nachgeschmack zu haben. Schön, dass es solche Filme und solche Geschichten gibt …