Review

Eine kitschige und
klischeehafte, doch wunderschöne Abschiedsszene am Bahnhof zwischen Mann
und Frau, dass einem das Herz vor Freude aufgeht trotz der Traurigkeit
der Protagonisten, weil das meisterlich inszeniertes Bilderkino ist --
die Blicke, die Gesten, zwei Hände getrennt durch eine Fensterscheibe,
Rennen durch den Zug, Rennen am Bahnsteig, und doch wird die Distanz
zwischen Mann und Frau größer -- alles in tollen Bildern und mit toller
Musik unterlegt. Und in der nächsten Szene diskutieren eben dieser Mann
und eben diese Frau, zwanzig Jahre später, ob das, was wir da eben
gesehen haben, wirklich akkurat in seiner emotionalen Intensität sei.
Besagte Abschiedsszene am Bahnhof entpuppt sich nämlich als
niedergeschriebene Erinnerung des Mannes, welcher als emeritierter
Ermittler einen autobiographischen Kriminalroman schreibt. Anhand dieser
beiden Szenen lassen sich exemplarisch zwei der vielen Themen dieses
Films über Vergangenheit, die einen gefangen hält und nicht loslassen
will, sehen: Es geht immer wieder um die Rolle des Erzählenden für eine
Erzählung; vor allem geht es um das Wesen der menschlichen Erinnerung,
die selektiv oder idealisiert oder trügerisch oder sonst wie emotional
modifiziert sein kann, und manchmal “werden aus Erinnerungen bloß
Erinnerungen an Erinnerungen” wie ein junger Witwer in einer anderen
Szene bemerkt. Freilich sind die Sujets dieses Werkes über die
Jahrzehnte dauernde Obsession eines Mannes mit einem Kriminalfall nicht
neu. Doch der Film geht sehr unverkrampft und emotional ansprechend mit
ihnen um, nutzt die beiden Zeitebenen seiner Geschichte
(Kriminalerzählung anno Isabel Peron, Wiedersehen der Figuren um die
Jahrtausendwende und Reflektion der Vergangenheit, Auseinandersetzung
mit Gegenwart und möglicher Zukunft) geschickt als Bühne für seine
Themen Erinnerung und Vergangenheitsverarbeitung.

Nebenbei zeichnet der Film in einigen Szenen noch ein Stimmungsbild
Argentiniens in den siebziger Jahren. Der Repression, Korruption und
peronistischen Paranoia setzt er die Wertvorstellungen des
Ermittler-Protagonisten entgegen, der sich in seinem
Gerechtigkeitsempfinden verletzt fühlt und den Wert seiner Arbeit
anzweifelt, da in seinem Land verurteilte Mörder amnestiert und als
Hitmen (vermutlich gegen Regime-Kritiker und Oppositionelle) eingesetzt
werden und der gesamte Justizapparat auch ansonsten nicht funktioniert
wie es richtig wäre, sondern von Inkompetenz, Korruption und mangelndem
Engagement der Beamten zerfressen ist.



Als Folge daraus wird am Ende ein erschreckend inhumaner Akt der
Selbstjustiz präsentiert, den der Film, in einem moralischen Dilemma
befindlich, weder gutheißt noch ablehnt, sondern es nach dem
Ursache-Wirkung-Prinzip teils als Konsequenz der Ungerechtigkeit eines
Regimes darstellt, dass hier ein Mann einem anderen Mann
eigenverantwortlich die schlimmstmögliche Strafe auferlegt, die man sich
vorstellen kann.



Und in letzter Konsequenz ist dieses Werk eine emotional ansprechende
Liebesgeschichte zwischen dem Ermittler-Protagonistin und seiner jungen,
mit einem anderen Kerl verlobten (später: verheirateten) Amts-Chefin
aristokratischen Schlages, welche die Missstände im Land erkennt, ihnen
machtlos gegenüber steht und zum Eigenschutz irgendwann sogar dulden
lernt. Es ist eine Liebe, die nicht statt finden kann, und bis zur
entzückenden Schlussszene bleibt unklar, ob sie jemals statt finden
wird. Weil der Mann total auf einen Kriminalfall fixiert ist. Später,
weil der Tod seines Freundes und Kollegen eine geplante Aussprache mit
der Frau zu Nichte macht. Weil er sein Leben in Gefahr bringt und
fliehen muss. Es ist also eine Mischung aus gedanklicher Okkupation des
Mannes und bloßem Schicksal, welche die Liebe nicht statt finden lässt.



Im Zentrum der Erzählung steht Benjamin Esposito, besagter Ermittler,
der nicht nur fassungslos ist über die Vergewaltigung und Ermordung
einer jungen Frau, sondern auch fasziniert ist von ihrer Anmut und
Schönheit, die er des öfteren auf Photos bewundert (und selbst in der
zwanzig Jahre später angesiedelten Rahmenhandlung erdenkt er für seinen
Roman eine semi-fiktive kitschige Szene, in der die junge Frau am
Frühstückstisch von der Sonne geküsst wird und erstrahlt). Hinzu kommt,
dass Benjamin Esposito gerührt ist vom Ehemann der Ermordeten, dessen
Liebe zu seiner verblichenen Frau grenzenlos zu sein scheint (und welche
der Film nebenbei bemerkt ohne den geringsten Anflug von Weinerlichkeit
transportieren vermag). Die Lösung des Kriminalfalles und die Jagd nach
dem Vergewaltiger und Mörder wird für den Ermittler zu einer Art
Obsession, zu seinem Lebensinhalt, dem er selbst die aufkeimenden
Gefühle zu seiner Chefin hinten anstellt. Und selbst zwanzig Jahre
später kann der Mann nicht loslassen und hängt gedanklich und emotional
in der Vergangenheit fest, will sie in Romanform verarbeiten (was zu
scheitern droht, weil er seine Gedanken und Empfindungen nicht geordnet
zu Papier bringen kann und von der Komplexität der damaligen Ereignisse
so überwältigt zu sein scheint, dass er sie nicht strukturieren kann),
bis der Mann endlich durch Aufklärung von der Vergangenheit erlöst wird
und im wirklich wohlverdienten Happy End nach vorne blicken kann.



Doch nicht nur, dass die Erzählung vielschichtiger ist als auf den
ersten Blick scheint, ist der Film zudem gnadenlos gut inszeniert und
versteht es virtuos auf des Zuschauers Nerven und Empfindungen zu
spielen und nach Belieben Bedrückung, Schock, Traurigkeit, aber auch
Euphorie, Berührung, romantische Sentimentalität und Belustigung. Im
Gegensatz zu manchen anderen Werken über verbissene Ermittler wie
“Zodiac” oder “Red Riding: 1974”, die es sich mit durchgängig düsterer
Atmosphäre und reifem Ernst natürlich irgendwo einfach machen, fährt El
secreto de sus ojos die gesamte emotionale Palette auf und erlaubt sich,
wo sinnvoll, auch Humor, Coolness, Romantik, unverhohlenen Kitsch und
das Staunen über Schauwerte. Dass dabei die Tragik und Dramatik der
Erzählung nicht an Wirkung verliert, dass die Frustration des Ermittlers
und Trauer des Witwers nicht untergeht, dass das zermürbende Gefühl
einem pervertierten Justizapparat ohnmächtig gegenüber stehen zu müssen
spürbar ist, das ist die eigentliche ganz große Kunst, die El secreto de
sus ojos vollbringt.

Schwierig zu sagen, was man als erstes loben soll. Die durch die Bank
hindurch starken Darsteller? Die perfekte Ausstattung? Die realistischen
Aging-Effekte an den Figuren? Die superbe Kameraführung, die immer
wieder aufs Neue phantastische Bilder kreiert? Oder die grandiose
Filmmusik, die in ihrem Leitmotiv einen Drahtseilakt zwischen Schönheit
und Pathos vollführt, ohne abzustürzen?

Wie dem auch sei. Gott segne die Menschen, die diesen Film gemacht
haben. So muss großes Kino aussehen. Da fühlt man sich sofort zuhause
und wird mitgerissen. Was hier zum Teil für tolle Szenen geschaffen
wurden, ist phänomenal. Die Atem stockende Szene am Tatort, als die
schlechte Laune und Teilnahmslosigkeit des Benjamin plötzlich umschlägt
in fassungsloses Entsetzen. Der pompöse Anflug auf das Stadion und über
das Spielfeld. Die Tätersuche in der Menschenmasse und der Fluchtversuch
des Täters beim Aufkommen der kollektiven Euphorie, und im plötzlichen
Chaos weicht die steady cam plötzlich der shaky cam. Die Fahrt im Aufzug
- eine klaustrophobische und präzise getimte Szene, in der gekonnt ein
intensives Gefühl blanker Angst erzeugt wird und wo es keine Möglichkeit
gibt, dem bewaffneten Mann auszuweichen. Die bereits erwähnte
wunderschöne Abschiedsszene am Bahnhof. Es ist schon beachtlich wie
dieser Film immer wieder Stimmungen schafft, welche der jeweiligen
Situation, der jeweiligen Station der Geschichte dienlich sind und diese
auf den Zuschauer überträgt. Dadurch werden die Ereignisse unglaublich
plastisch, die Figuren nachfühlbar, der Film als Ganzes eindringlich,
fesselnd und einprägsam. Und mehrfach während der Filmbetrachtung muss
man entzückt die Hände auseinander schlagen angesichts dessen, was
gezeigt wird. Der wohl packendste Film seit “Rachel Getting Married”,
auch wenn er in eine gänzlich andere Richtung schlägt.

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