Lewis Carrolls Kinderbücher „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ aus den Jahren 1865 und 1871 haben bereits Generationen von jungen und alten Menschen begeistert und inspiriert. Zu den inzwischen mehr als zwanzig Verfilmungen beider Titel, die längst als literarische Einheit gesehen werden, gesellt sich nun nach der 1951er Zeichentrickadaption eine zweite Großproduktion aus dem Hause Disney. Um den obskuren Stoff für eine breite Zielgruppe tauglich zu machen, verpflichtete man Hollywoods Spezialisten für das Skurrille: Tim Burton. Wer aber auch immer bei der Gestaltung der Neufassung die kreativen Hosen anhatte, sah offensichtlich wenig Sinn darin, den Geist der Bücher auf die große Leinwand hinüberzuretten.
Beschreiben sowohl Carrolls Romane wie auch der Zeichentrickklassiker eine ziellose Odyssee durch die bizarre, aber wunderbar erdachte Traumwelt eines Kindes, so interpretieren Disney und Burton die Geschichte als moderne Emanzipationsparabel mit einer nahezu erwachsenen Alice. Mag dieser Gedanke angesichts der mehrdeutigen Anspielungen der Originaltexte nicht ganz von der Hand zu weisen sein, so wirkt diese Aussage in der Endabrechnung doch allzu platt und wenig subtil.
Unter diesen Umständen vermögen auch die insgesamt passabel agierenden Darsteller nicht, die über Weite Strecken viel zu stark den Konventionen des Blockbusterkinos angepasste Handlung mit Leben zu erfüllen. Streng genommen sind derer auch nur zwei erwähnenswert: Mia Wasikowska bringt die selbstbewusste, aber noch nach ihrem Lebensweg suchende, junge Frau mit dem nötigen Charisma rüber, kann ob der platten Dramaturgie aber kaum etwas aus diesen Vorraussetzungen machen. Johnny Depp spielt gewohnt souverän an der Grenze zum Overacting, sein verrückter Hutmacher wirkt trotz allem wie eine Schießbudenfigur, die sich kaum von den CGI-Kreaturen abzuheben weiß. Letztere sind technisch erstklassig umgesetzt und hätten in der Summe deutlich mehr Screentime verdient. Insbesondere die Auftritte der grinsenden Katze wie auch des Märzhasen versprühen für einige kurze Momente den Charme des Disneyoriginals. Doch das soll es an positiven Aspekten auch schon gewesen sein. Alle anderen Figuren, inklusive der digital verfremdeten Helena Bonham Carter als Herzkönigin und Anne Hathaway als engelsgleiches weißes Pendant, wirken wie blutleere Staffage in einer kunterbunten Computerwelt.
„Herr der Ringe“ und die „Chroniken von Narnia“ haben in den letzten Jahren vorgemacht, wie moderne Fantasyfilme aufgebaut sein müssen, um das Publikum zu erreichen. Nun möchte man den Machern von „Alice“ nicht vorwerfen, einfach nur stupide dessen Erfolgskonzepte zu kopieren. Die Anleihen an beiden Filmreihen sind aber kaum übersehbar: Ein von putzigen Kreaturen bevölkertes Fantasiereich, regiert von einem bösen Machthaber, der besiegt werden muss und einer oder mehrere Helden, die diesem den Garaus machen sollen. Hier wird aus dem planlos durch das Wunderland irrenden Kind eine heranwachsende Frau, die den großen Drachen Jabberwocky erschlagen soll. Mit Rüstung und Schwert. An einem vorbestimmten Tag. Wie dieser Showdown aussieht, geschweige denn ausgeht kann sich jeder, der mehr als zwei Filme in seinem Leben gesehen hat, denken. Mag man auch die eingangs erwähnte Interpretationsmöglichkeit wohlwollend als Grundlage für dieses Handlungselement sehen, so wirkt sie doch wie der verzweifelte Versuch, der erzählerisch eigenwilligen Vorlage eine für jedermann fassbare Dramaturgie aufzudrücken. Das gibt insgesamt noch schicke, anspruchsfreie Familienunterhaltung ab, dürfte aber aufgrund der allzu starken Simplifizierung jeden Kenner der Romane und früherer Verfilmungen enttäuschen.
All jene, die die literarische Vorlage und/oder den gleichnamigen Zeichentrickfilm von 1951 kennen und schätzen sollten trotz der ansehnlichen Optik einen Bogen um die Neuverfilmung/-interpretation machen, denn von der Liebeserklärung an die kindliche Fantasie, wie sie in den genannten Vorgängern regelrecht zelebriert wird, erkennt man in der aktuellen Version nur noch vage Ansätze. Das mag für lockeres Entertainment für eine möglichst breite Zielgruppe reichen, als Literaturverfilmung enttäuscht „Alice im Wunderland“ aber auf ganzer Linie. Kurz vor der Schlusssequenz werden noch eine Handvoll bekannter Szenen mit einer deutlich jüngeren Alice als Rückblende gezeigt. Angesichts der inhaltlichen Qualitäten des vorliegenden Werkes wirken diese wenigen Bilder wie ein Fingerzeig gegen jeden, der eine „echte“ Verfilmung der Carrollromane erwartet hat.