Auf Messers und Menschens Schneide
„Die Spielregel“ frisst sich und dich mit Haut und Haaren… Lockerleicht und doch aufgeladen mit einer alles unterlaufenden Traurigkeit, Vorahnung, zerstörerischen Kraft, einem bezaubernd-gefährlichen Chaos, sodass ich immer wieder nur staunen kann. Der Weltkrieg am Horizont, der Adel in fremden Betten, Nationalhelden mit Herzschmerz und Angestellte, die früh genug das „sinkende Boot“ verlassen… Jean Renoir („der Orson Welles Frankreichs“) hat mit „Die Spielregel“ ein wirklich wichtiges und wuchtiges Werk für die Ewigkeit geschaffen, das jegliche Genres, Schubladen und Regeln sprengt.
Melodrama am Abgrund
„The Rules of the Game“ ist für mich einer der besten Filme aller Zeiten. Bis heute. Auch heute. Gerade heute wahrscheinlich sogar. Wie kommt das? Was macht seine zeitlose Faszination aus? Wie konnte Jean Renoir hier einen solchen Meilenstein zusammenfügen? Warum polarisiert das Ding wie eh und je? An der Oberfläche ist „Die Spielregel“ ein französisches Sittengemälde zwischen gesellschaftlicher Kakophonie und Soapoper. Köstlich, schnippisch, unterhaltsam. Doch guckt man etwas genauer hin, pult die einzelnen Häute dieser Kinozwiebel nach und nach ab, dann enthüllen sich Vorahnungen, Abgründe und beunruhigende Bestandsaufnahmen. Sehr auf den Punkt und modern geschrieben, vorgetragen von ein paar der besten Schauspielern ihrer Zeit, aus ganz Europa kommend. Renoirs „Die große Illusion“ ist wahrscheinlich noch humaner und liegt mir genauso am Herz, doch bei „Die Spielregel“ sieht und spürt man einfach, was entsteht, wenn selbst einem Meister wie ihm noch ein reiner Glücksgriff und Geniestreich gelingt. Das kann man in dieser Form nicht unbedingt alles planen, ahnen, mahnen. „Die Spielregel“ ist lustig und bedrückend zugleich, eine kokette Collage der Eitelkeiten und der Vergänglichkeit. Es hat einen Grund, warum kein Filmstudium ohne ihn auskommt. Und doch ist er meiner Meinung nach keinen Moment zu verkopft oder filmisch versnobbt. Es wird gejagt und gewitzelt, es wird beneidet und vereitelt, es wird gespielt und verspielt. Die Herkünfte und der Herzschmerz, die Beweggründe und Beleidigungen, die Grautöne und Schatten am Horizont. Tragik und Komik in einem todesnahen Walzer vereint. Vielleicht ist nicht jeder für diese Nuancen empfänglich und sieht Renoirs Fingerzeig daher nur als überbewertete und fürs Kino hochgezüchtete Farce und Telenovela. Doch wie gesagt… hinter dieser Maske verbirgt sich etwas zutiefst Beeibdruckendes, Bleibendes, Bebendes mit dem er in diesem Ausmaß selbst unter besten Voraussetzungen damals nicht rechnen konnte. Heute erkennt man das dafür umso klarer. Ein subtiles Mahnmal. Ein Meisterwerk.
Jeder mit jedem. Oder jeder gegen jeden?
Fazit: einer der besten und vielschichtigsten Filme aller Zeiten. In meiner All-Time-25. Liebeskarussell am Vorabend des grausamsten Krieges aller Zeiten… Zwiespältig und absolut magisch, menschlich, monumental. Von Herren und Dienern, von Helden und Hofnarren, von Betrügern und Bourgeoisie, von Betten und Gräbern, von Jägern und Gejagten. Von einer scheinheiligen und selbstzerstörerischen Gesellschaft.
P.S.: der eventuell einzig größere Wermutstropfen sind die Jagdszenen, in denen wirklich viele Hasen und Tauben ihre Leben lassen mussten - aber auch das hat hier Methode und einen bitteren Beigeschmack, Hintergedanken, metaphorischen Zusammenhang… Trotzdem unangenehm das als Tierfreund zu sehen.