Für Paule (Constantin von Jascheroff) ist der etwas ältere Richie (Christoph Letkowski) Jemand, dem es richtig gut geht. Er hat eine hübsche Freundin, Hannah (Nora von Waldstätten), mit der er in einer gemeinsamen Wohnung lebt, seine kleine Gerüstbaufirma, die er zusammen mit Janko (Georg Friedrich) und Frankie (Arved Birnbaum) gerade aufbaut, läuft nicht schlecht, und als Sportler ist er ein Vorbild. Gemeinsam mit Nonne (Marlon Kittel) fröhnen die Beiden dem Parkouring, einer jungen Sprortart, bei der man eine Stadt auf möglichst direktem Weg durchquert, elegant sämtliche Hindernisse überwindet und an Punkte gelangt, die ohne Hilfsmittel normalerweise nicht erreichbar sind. Voraussetzung für eine hohe Geschwindigkeit ist Körperbeherrschung und Kraft, weshalb Richie ständig seinen Körper trainiert und mit den beiden Freunden gewagte Streckenführungen ausprobiert, um sich zu verbessern.
Zwar hat Nonne sein zweites Staatsexamen versemmelt, aber als Hannah Nachhilfestunden benötigt, um ihre mündliche Abiturprüfung in Mathematik doch noch zu bestehen, schlägt ihn Richie als Lehrer vor. Eigentlich hatte Hannah an Stefan (Laurens Walter) gedacht, mit dem sie gemeinsam auf dem Abendgymnasium die Schulbank drückt, aber da Richie weiß, dass dieser ein Auge auf seine Freundin geworfen hat, war er gegen diese Konstellation. Doch auch als er bemerkt, dass sein Freund und Hannah viel Spaß beim gemeinsamen Unterricht haben, rumort es in ihm, was noch dadurch verstärkt wird, dass er sowieso nicht begeistert ist von Hannahs Zukunftsplänen, da sie nach ihrem Abitur Architektur studieren möchte und dafür aus Mannheim wegziehen müsste.
Auch auf dem Bau wird Richie von Alltagsproblemen eingeholt, denn zum Einen bleiben Zahlungen von Auftraggebern aus, zum Anderen spürt er die Abhängigkeit als kleine Firma, die immer nur als Subunternehmer Aufträge von den größeren erhält. Ablenkung scheint in solchen Momenten nur sein Sport zu bieten, dessen Zwang zu exakten Abläufen und totaler Kontrolle über den eigenen Körper den Gegensatz zum privaten Chaos darstellt. Sein aus wachsender Eifersucht entstehendes Misstrauen gegenüber jeder anderen Person, führt zu Ungerechtigkeiten und Streitereien in seinem Privatleben und zu Unkonzentzriertheiten bei der Arbeit.
Mit Richie stellt der Film eine Figur in den Mittelpunkt, deren Selbstdegradierung vom ersten Moment an spürbar wird. Einerseits hat Richie selbst an sein privates Glück mit der Freundin und den Erfolg im Beruf so hohe Ansprüche, dass er nicht in der Lage ist, normale Probleme in diesen Bereichen anzusprechen, andererseits wird zunehmend sein tiefer Minderwertigkeitskomplex spürbar gegenüber Menschen, die eine bessere Schulbildung haben. Das darin eine gegenseitige Abhängigkeit liegt, ist offensichtlich, weshalb Richie zunehmend sein Heil in der Kontrolle aller Bereiche sucht, während gleichzeitig die dadurch selbstverschuldeten Schwierigkeiten über ihm zusammenzubrechen drohen.
Für den Betrachter wirken seine Verhaltensmuster vordergründig unlogisch, weil aus objektiver Distanz ersichtlich ist, dass sowohl seine Beziehung zu Hannah als auch sein Verhältnis zu den Freunden intakt ist. Zudem sind seine Leistungen beim Parkouring mehr als beeindruckend, was sein unterdrücktes Unterlegenheitsgefühl merkwürdig erscheinen lässt. Regisseur und Autor Marc Rensing betont das noch mit schnell geschnittenen Abläufen, coolen Locations in verlassenen Fabrikanlagen und fetziger Musik. Die tatsächlichen Probleme, mit denen Richie im Film konfrontiert wird, sind dagegen banale Alltagprobleme, die Jeder irgendwie kennt, aber "Parkour" macht deutlich, dass man die jeweilige Situation des Einzelnen nicht nach den eigenen Massstäben beurteilen kann.
Der Niedergang des Richie verläuft entsprechend unaufhaltsam. Noch scheinbar harmlos, als er einen Typen vermöbelt, der seine Freundin in der Disco angebaggert hat, bis er seinen Kollegen Janko im Affekt vom Gerüst fallen lässt, weil dieser ihn mit seinem Misstrauen gegenüber Frauen genervt hatte, gerade weil er damit Richies verdrängte Gefühle bestärkte. Allerdings vermeidet "Parkour" es, diese Ereignisse zu sehr zu dramatisieren. Seine Umgebung bis hin zur Polizei reagiert immer normal. Niemand will ihm wirkliche etwas Böses, weshalb sein Verhalten zunehmend paranoide Muster annimmt.
Während Richie - Darsteller Christoph Letkowski diese Veränderungen detailliert erfahrbar werden lässt, bleibt seiner Umgebung nur die Rolle des Stichwortgebers. Gerade die Rolle des Nonne wird verschenkt, da dessen Position als Akademiker im Verhältnis zu seinem Freund nicht ausgearbeitet wird. Man erfährt auch nichts von dessen Privatleben, seinem Versagen bei der Prüfung zum Staatsexamen oder wie lange er schon mit Richie trainiert. Zuerst noch von Richie als Nachhilfelehrer vorgeschlagen, verliert er schnell seine Reputation, als er Hannah scheinbar nahe kommt.
Ähnliches gilt auch für die Figur der Hannah, von der man nur erfährt, dass sie nicht weiter am Fliessband arbeiten will, weshalb sie ihr Abitur nachmacht. Offensichtlich ist sie mit Richie schon viele Jahre zusammen, aber über ihr Innenverhältnis in der Beziehung erfährt man nichts. Bemerkenswert ist die Sprachlosigkeit zwischen ihnen, denn ihr fällt gar nicht auf, wie sehr sich Richie verändert. Angesichts der Tatsache, dass Hannah schon einige Jahre am Abendgymnasium lernt, sollten die hier gezeigten Schwierigkeiten zwischen ihnen schon lange vorhanden sein. Tatsächlich vermittelt der Film aber den Eindruck, als ob sie erst in diesem Moment beginnen, aber dann fragt man sich, warum seiner Freundin und auch seiner sonstigen Umgebung Richies Veränderung nicht auffällt. Alle lassen sich jedes Mal von seinen Ausreden beruhigen - bis es zum Zusammenbruch kommt.
Solche Details wären letztlich unwichtig, wenn "Parkour" seine stimmig aufgebaute Charakterstudie konsequent zu Ende führen würde. Leider entspricht es der Realität, dass sich eine Umgebung schnell beruhigen lässt, und erst nach Eintritt der Katastrophe schon lange vorhandene Anzeichen einer Veränderung wahr nimmt. Ebenso sind die hier angesprochenen Probleme durchaus real - selbstverständlich im individuellen Sinne. Die Beziehungsprobleme mit Hannah sind verständlich, auch wenn Richies Eifersucht gegenüber anderen Männern nur die Tatsache ersetzt, dass sie aus der gemeinsamen Wohnung wegziehen will. Das daraus Verlassenängste entstehen können, ist nachvollziehbar. Gleiches gilt für seinen Minderwertigkeitskomplex, der erst seinen Ehrgeiz anstachelt. Sehr schön wird in "Parkour" dadurch erkennbar, dass äußerliche Überlegenheit kein unbedingtes Anzeichen für innere Stärke ist.
"Parkour" bleibt mit seiner Studie eines Menschen, der unaufhaltsam sein eigenes Unglück bereitet, lange Zeit unbequem, weil er den Betrachter mit üblichen Mechanismen unserer Gesellschaft konfrontiert - Oberflächlichkeit, Sprachlosigkeit und Erfolgsdruck. Letztlich ist der Niedergang des Richie nicht allein sein Verschulden, sondern auch das seiner unmittelbaren Umgebung - seine Sportfreunde, seine Kollegen und nicht zuletzt auch Hannah. Doch diese Konsequenz steht "Parkour" nicht durch, der zwar nicht die hier angesprochenen Probleme löst, sie aber in eine Erklärung einbettet, die nicht nur seine Umgebung von Schuld freispricht, sondern dem Ganzen letztlich nur den Anstrich eines persönlichen Schicksals gibt, dass zum Schluss noch eine äußerliche Coolness bedient, deren krampfhafte Erhaltung erst zu Richies Symptomen führte.
Es ist eine tragische Coolness, die jedem Betrachter eine Träne ins Knopfloch beförtert, ihn aber mit einem beruhigten Gefühl aus dem Film entlässt - so schlecht ist die Welt doch gar nicht (4/10).