Natürlich ist "Amer" den Giallothrillern verhaftet... und "Amer" ist natürlich dennoch kein reiner Giallothriller: Es handelt sich um eine Art Triptychon, das Ursprung & Hochzeit & Endstadium präsentiert. "Amer" ist in drei Teile gefaltet: in Kindheit, Jugend und Erwachsensein beispielsweise... in Grusel-, Erotik- und Terrorfilm... oder in Jenseits, Ekstase und Tod... oder auch in Trauma, Verlangen und Entladung. Schon der Vorspann kündigt diese Dreiteilung an, läuft er doch im (immer wieder neu gestalteten) split screen-Verfahren ab: 2x split, 3x screen... Es folgt ein letztlich lose zusammenhängender Episodenfilm mit drei Stationen, mit drei Gesichtern - sozusagen tre volti della paura...
"I tre volti della paura" (1963) war eine der frühen eigenständigen Regiearbeiten Mario Bavas (und zugleich eine seiner schönsten), die zudem neben seinen Filmen "La Ragazza che sapeva troppo" (1963) und "Sei donne per l'assassino" (1964) zu der ersten Entwicklungsstufe des italienischen Giallothrillers zu zählen ist: Il telefono, die erste Episode, weist zwar noch nicht die vollständig ausgereifte fetischistische Haltung & die Nummernrevue aus Mordszenen auf, über die sich das Genre später definieren sollte, nimmt aber mit seinen vielen Bedrohungen durch eine(n) unheimliche(n) Unbekannte(n) bereits entscheidende Merkmale vorweg - unter anderem das Spiel mit der geschlechtlichen Identität der unbekannten, bedrohlichen Figur, die Klinge in der schwarz behandschuhten Hand oder die terrorisierenden Übergriffe. "Amer" jedoch orientiert sich an der letzten Episode dieses ebenfalls dreigliedrigen Episodenfilms, die mit dem Giallo im Grunde nichts zu tun hat (gleichwohl vermeintlich übernatürliche, ganz selten auch tatsächlich übernatürliche Vorfälle durchaus im Giallo Verwendung finden konnten): La goccia d'acqua erzählt von einer jungen Frau, die sich von einer Verstorbenen heimgesucht wähnen muss, deren Ring sie an sich genommen hat. "Amer" beginnt [Achtung: Spoiler!] mit einer Variation dieser Episode: Die junge Ana (in der womöglich eine Verbeugung vor Ana Torrent - dem wundervollen spanischen Kinderstar der 70er Jahre - zu sehen ist, die in ihren prominentesten Rollen ebenfalls Ana hieß[1]) entwendet im unheimlichen Familienanwesen ein Medaillon aus den totenstarren Fingern des aufgebahrten, toten Großvaters, der daraufhin wieder zu erwachen scheint, derweil die kauzige Haushälterin (oder die kauzige Witwe?) wie eine unheilvolle Hexe (so wird sie auch zwischenzeitlich von der aufgebrachten Mutter bezeichnet!) um das junge Mädchen herumschleicht, während dieses sie im Gegenzug heimlich beobachtet. Diese erschreckende alte Frau weckt ihrerseits mit den satten Farben und der aufdringlichen Beleuchtung Assoziationen an Dario Argentos "Suspiria" (1977); auch die Einstellung einer sich spannenden Kette zwischen Anas Fußgelenk und einem Bettpfosten mag an das strangulierende, gestraffte Kabel aus der ersten, grausamen Mordszene aus "Suspiria" erinnern, so wie auch Anas Rutschen über Glassplitter an das Fliehen eines Opfers durch ein Meer aus Stacheldraht erinnern mag: trotz aller Unterschiede dennoch dieselben Affektbilder, dieselben Groß- & Nahaufnahmen zwischen Panik und Schmerz.
Wer A(rgento) sagt, muss auch B(ava) sagen: Argento, der viel eher Bavas Erbe ist als etwa dessen Sohn Lamberto, markiert mit Bava die Ränder eines Genres - und beide haben in ihm bedeutende Höhepunkte vorgelegt. Argento hat mit "Suspiria" und kurz darauf mit "Inferno" (1980) den Giallo seinem Endstadium entgegengetrieben: noch immer schöne Frauen, scharfe Klingen, schwarze Handschuhe, Blut - aber kaum noch Thriller, sondern eher böses Märchen, in dem menschliche Täter oftmals täterlosen Untaten weichen, in dem Psychologie & Motivation durch übernatürliche Kräfte ersetzt werden. Auch wenn sich der Giallothriller auch in den 80ern, ja selbst in den 90ern und danach noch halten konnte (wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß), stellen "Suspiria" und "Inferno" seine Grenze dar: ein Film konnte den Giallo nicht weitreichender variieren, ohne zugleich aufzuhören, noch ansatzweise ein Giallo zu sein. Der Giallothriller, der in "I tre volti della paura" seine Anfänge als Il telefono zwischen Gothic Horror (I Wurdalak) und Horrorthriller (La goccia d'acqua) genommen hatte, wurde knapp 1½ Jahrzehnte später wieder mit dem Horrorfilmischen verschmolzen, das zwischendurch nur gelegentlich und in verwaschener Ausprägung im Giallo auftrat (u. a. bei Mario Colucci, Sergio Martino und Emilio Miraglia).
Der Giallo hat mit Bava seine Struktur gefunden, und mit Argento wieder aus ihr herausgefunden; er hat sich als Spielart des Schreckenerregenden, der Angst, der paura aus dem Horrorfilm herausgeschält und ist schließlich wieder in ihn zurückgekehrt. Mit diesen Rändern, mit Bava und Argento, mit "I tre volti della paura" und "Suspiria" beginnt "Amer" und steckt dadurch sein Spielfeld ab. Dadurch, dass er über den Wahrheitsgehalt von Anas Wahrnehmungen kein endgültiges Urteil fällt (erhebt sich der rachsüchtige Leichnam unter der Einwirkung mysteriöser Hexenkräfte oder geht bloß die kindliche Phantasie mit Ana durch?), bleiben diese Elemente des Horrorfilms aber auch wieder etwas giallotypischer: mit der psychologischen Prägung, die hier im Dreischritt Mädchen-Teenager-Frau anklingt, gehören die (bloß eingebildeten) horriblen Wahn- und Alptraumbilder zu den fest mit der Pointe verankerten Dreh- & Angelpunkten des Genres.[2]
Die psychologische Prägung wird in "Amer" allerdings (wie in nahezu allen Gialli) bloß behauptet und an keiner Stelle analysiert: Ana wird Zeugin der Freudschen Urszene, die Zuwendung der Eltern scheint denkbar gering zu sein, die Konfrontation mit dem Leichnam des Großvaters und die Schuld des Diebstahls bringen ein Schockerlebnis und Schuldgefühle mit sich, die zwischen Angst und lustvollem Nervenkitzel schwankende Stimmung wird während ihres Höhepunktes (unter dem Bett!) vom Schmerz der Glassplitter unter den Knien begleitet - der wie alles in diesem Film ungemein sinnlich vermittelt wird. "Amer" ist kein psychologischer Film: diese Standarderklärungsmodelle psychischer Auffälligkeiten sind Zitate eines Genres, das - beeinflusst von "Psycho" (1960) und "Peeping Tom" (1960) - von schlichten, simpel konstruierten Erläuterungen verschiedenster Motivationen zuhauf durchzogen wird... nicht die Glaubwürdigkeit psychologischer Vorgänge, sondern deren Vertrautheit aus Film und Literatur wird im Giallo entworfen (und ebenfalls in "Amer"). Diese Klischees zielen (das wird spätestens in Nachhinein, nach den weiteren Episoden klar) auf ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität hin, das sich im Giallo meist als sadistisches oder masochistisches Verlangen niederschlägt: Angst, Lust, Schmerz und Schuldgefühl sind die Pfeiler, zwischen denen sich Ana in den folgenden Episoden bewegen wird.
Die zweite Episode fällt besonders handlungsarm aus, ist aber vielleicht die schönste im ganzen Film: als Teenager ist Ana mit ihrer Mutter auf dem Weg zum Friseur und bereits dieser Spaziergang ist eine Zuspitzung der Bemühungen des Giallos, dem Ästhetizismus und der Mode treu verhaftet zu bleiben. Der Giallo, der ab 1970 auch immer erotischer und freizügiger geriet, frönte stets der Schönheit: die Attraktivität der Figuren wurde vielfach verführerisch betont, die Kleidung war stets ganz modisch auf der Höhe der Zeit, die Ausstattung häufig extravagant... "Amer" zelebriert dieses anbiedernd Modische und den Körperkult ebenfalls und entkleidet beides weitestgehend von der Narration: zwei schöne Frauen (die Mutter, die noch den Blick der Männer auf sich ziehen will und sich berechnend den Ausschnitt aufknöpft, und die Tochter, die sich mit einer Haarsträhne im Schmollmund insgeheim diebisch über ein ungeschicktes Umknicken der Mutter freut), beide modebewusst durchgestylt mit Hüten - die Mutter hochhackig & mit leicht geöffnetem Ausschnitt -, auf einer sonnendurchfluteten Küstenstraße, neben ihnen ein knallroter Sportwagen und lüsterne Männeraugen in Nahaufnahmen... Nahaufnahmen fangen ohnehin mehrfach jedes Detail ein, der Soundtrack entrückt die Bilder zudem verstärkt der Realität und betont die Sinnlichkeit des Ganzen (die noch eine ganz andere Funktion erfüllt - mehr dazu später).
Dann schleicht sich doch ganz sanft eine Art von Handlung unter die Bilder: Die Mutter sitzt beim Friseur, die Tochter vertreibt sich die Zeit zunächst mit einem jüngeren Spielgefährten und stößt schließlich auf einige Biker, nachdem sie sich zuvor weder bei dem Knaben, noch bei einem eher schmierigen, alten Ladenbesitzer in sonderlich aufregender Gesellschaft befunden hat. Wie schon zuvor die beiden Frauen, werden nun auch die Biker höchst sinnlich vorgeführt: Jeans und Leder, Zahnstocher und Dreitagebärte, Sonnenbrillen und nietenbesetzte Lederarmbänder, Gürtelschnallen und schwarze Körperbehaarung auf gebräunter Haut, Muskeln und kernige Gesichter, selbstbewusste Dominanz, geballte Männlichkeitsklischees (Ausspucken, ölverschmierte Hände, forsches Auftreten)... Ana begehrt (ihr perlender Schweiß auf der Stirn lässt es erahnen) und ist ihrerseits dem Blick der Männer ausgesetzt (wobei sich unter ihrem wehenden Kleid das Höschen abzeichnet) - bis dann eine Ohrfeige der hinzustoßenden Mutter ein etwas beschämendes Ende des erotischen Begehrens erzwingt. Folgsam trottet Ana nach anfänglicher, leichter Wut mit der Mutter davon.
Erneut wird eine lustvolle Angst (oder besser: eine ängstliche Lust) - die der Konfrontation der schönen, zart-zerbrechlichen, jungen Frau mit dem Blick der Überzahl kräftiger, harter Männer zugrundeliegt - mit einer Schuld verknüpft: die Ohrfeige der Mutter als Schuldzuweisung (und womöglich auch als Ausdruck einer Eifersucht auf die Jugend der Tochter), die nicht allein das bloße Entfernen vom Friseursalon anzuklagen scheint, sondern auch den halb verschämten, halb schamlosen Genuss der Tochter, sich zur Schau zu stellen.
Erwachendes Verlangen (als erwartungsvolle Untätigkeit zwischen Devotion, Passivität und Masochismus ruhend) und die mütterliche Repression in Schuldzuweisung und Strafe setzen die Linie der Kindheit fort und münden schließlich in der giallotypischen sexuellen Gestörtheit[3]: Ana ist längst eine herangereifte Frau - noch immer hübsch, noch immer modebewusst gestylt - und befindet sich auf dem Weg zum Elternhaus ihrer Kindheit. Ihre Bahnfahrt, ihre Taxifahrt: beides wird über visuelle und besonders über akkustische Reize ungemein erotisiert; erneut perlt Schweiß in Großaufnahmen, knartschen Lederhandschuhe, bohren sich Blicke in Erblicktes, reibt im Gedränge Haut an Haut, klappen Augenlider auf usw. Der Taxifahrer gerät dabei - während die Einstellungen ihn zugleich durchaus erotisch und begehrenswert zeigen - zur Bedrohung: möglicherweise fällt sein Blick auf das wieder mal unter dem Kleid freigelegte Höschen, er beschleunigt den Wagen aggressiv, er reagiert zunächst nicht auf Anas Bitten, er möge doch ihr Fenster öffnen... und schließlich imaginiert Ana am Ende der Fahrt gedankenverloren eine Situation, in der ihre Kleider vor den Augen des Mannes abhanden kommen. Aus der ängstlichen Lust und der lustvollen Angst scheint nach der mütterlichen Schuldzuweisung ein Widerspruch geworden zu sein: Angst und Lust bilden keine Einheit mehr, sondern bekämpfen sich - was Ana begehrt, verweigert sie sich.
In der Badewanne kommt es, als sie in ihr mit der Spiegelung ihres Gesichts konfrontiert wird, zur ersten Phantasie eines gewaltsamen Übergriffs; in der Nacht wiederholt sich diese Phantasie in ihrem Bett. Während (wie in der ersten Episode) zunehmend unklarer wird, ob diese Phantasie nicht doch real sein könnte, kehrt - so scheint es zumindest - der Taxifahrer zurück zum Anwesen: Ana (mit schwarzen Handschuhen und Rasiermesser nun selbst eine typische Giallo-Täter(innen)gestalt) mordet den Mann in einer fast dreiminütigen, blutigen, sinnlichen, erotischen Gewaltszene. Einen Schnitt später erwacht sie am Tatort und sieht sich mit dem gesichtslos bleibenden Killer ihrer Phantasie konfrontiert. Obligatorische Flucht, obligatorische Konfrontation: Ana sticht die unbekannte Gestalt nieder. Am Ende jedoch liegt ihr eigener Leichnam mit Schnittwunden an den Handgelenken auf einer Bahre - und während ein anonymes Händepaar die Frau dreht und wendet, untersucht und überprüft, scheint doch noch Leben in ihrem Körper zu stecken, welches empfindet und genießt.
Wahnsinn, Alptraum, Wunschvorstellung, Schizophrenie, Selbstmord, Mord...? Der Film lässt einige Deutungsmöglichkeiten offen - allesamt kennt man sie aus der Geschichte des Giallothrillers. Am Ende bietet die experimentelle Motivsammlung aus Bildern und Tönen[4] eine sehr sinnliche, aber an keiner Stelle analytische Reflexion des Genres. Der Film mag manch einem dabei helfen, sich all jene Dinge, die den Giallo ausmachen, vor Augen zu führen, setzt dabei allerdings gewisse Grundkenntnisse voraus: er beginnt mit den Rändern des Giallos, mit Bavas frühem Einstand und Argentos ersten Filmen der 3-Mütter-Trilogie, er läuft über die Erotik und das Begehren (zentrale Elemente im Giallo) und endet schließlich quasi mit einem Geheimnis der schwarzen Handschuhe, mit den fetischisierten Gewaltexzessen des Genres. Dabei wiederholt er in sich die giallotypischen Klischees der psychologischen Prägung von Täterfiguren, deren Motivation meist auf Traumata und Kindheitserlebnisse zurückgeht. Mit dem auserlesen zusammengestellten Soundtrack und der auf den ersten Blick arg vordergründig wirkenden Bildgewalt (die immer auch verschiedene Giallothriller zitiert, am deutlichsten sicherlich "Suspiria" und "Profondo Rosso") betont er auch die kreative Sinnlichkeit des Genres, die sich vor allem bei den Meistern Bava und Argento, aber auch bei Fulci, Martino, Lamberto Bava, Avati und einigen anderen ziemlich ausgeprägt wahrnehmen lässt.
Die Narration so erheblich zurückzufahren, die Dialoge so erheblich zu reduzieren und die Geräuschkulisse und die Einstellungsgröße so erheblich zu intensivieren, ist dabei mehr als bloßer Ästhetizismus (und mehr als ein Zitat eines Ästhetizismus): Im Giallothriller geht es - wie in vielen Krimis, Thrillern und Detektivfilmen auch - stets darum, Täuschungen aufzudecken und die cleversten Gialli haben Bild und Ton immer wieder sehr selbstreflexiv eingesetzt, um das Kinopublikum mit der Täuschung zu konfrontieren. In Argentos Filmen, ganz besonders in "Profondo Rosso", erreicht dieses Verfahren seinen Höhepunkt. Während eine andere junge Giallo-Hommage[5] wie "Berberian Sound Studio" (2012) sehr deutlich mit der Manipulation der Bilder durch den Ton (und umgekehrt) spielt und die Giallo-Parodie "The Editor" (2014) zumindest auf die Meta-Struktur des Films im Film zurückgreift, konzentriert sich "Amer" darauf, die Bedeutsamkeit der sinnlichen Wahrnehmung zuzuspitzen: Cattet und Forzani haben das Kunststück vollbracht, subtil mit dem Holzhammer zu sensibilisieren.
So ist "Amer" zwar sehr sinnlich und kaum analytisch, bei allen Oberflächenreizen aber keinesfalls oberflächlich: er bietet eine bloße Hilfestellung, sich dem Giallo zu nähern - die sportliche Leistung der Annäherung selbst muss dann aber das Publikum ausführen. Dass ein größeres Massenpublikum (und sogar einige Giallofans) kein Vergnügen daran findet, ist... nunja: bitter...
7,5/10
1.) Ein Vergleich mit Víctor Erices "El Espíritu de la colmena" (1973) und Carlos Sauras "Crías cuervos" (1976) liegt daher auf der Hand und lässt ahnen, dass „Amer" sich auch außerhalb des Giallos Inspirationsquellen gesucht hat: in beiden Filmen geht es um die kindliche Phantasie einer jungen Ana (beide Male Ana Torrent, aber dennoch unterschiedliche Figuren) innerhalb repressiver Strukturen.
2.) Filme wie Martinos "Lo strano vizio della Signora Wardh" (1971), Miraglias "La notte che Evelyn uscì dalla tomba" (1971) oder Fulcis "Una lucertola con la pelle di donna" (1971) (1971 war schon ein tolles Filmjahr!) bieten jeweils ganz unterschiedliche Beispiele dafür, wie Elemente des Horrorfilms über Traum, Täuschung oder Wahn im (mal mehr, mal weniger typischen) Giallo wieder rational erklärt werden.
3.) In Bavas "Il rosso segno della follia" (1970) muss ein ödipaler Muttermörder seine Tat aufarbeiten, indem er Frauen in Brautkleidern mordet, in Argentos "Quattro mosche di velluto grigio" (1971) machen sexuelle Übergriffe des Vaters aus einer Frau die Peinigerin ihres Partners, in "La notte che Evelyn uscì dalla tomba" vergeht sich ein Lord nach dem Verlust seiner Gattin sadistisch an Prostituierten, in "Una lucertola con la pelle di donna" führt eine skandalträchtige lesbische Affäre zum Mord während Sexparties unter Teenagern in Dallamanos "Cosa avete fatto a Solange?" (1972) zur erzwungenen, gewaltsamen Abtreibung führen - und Edwige Fenech, die schöne Diva des Giallothrillers, räkelt sich in "Lo strano vizio della Signora Wardh" durch sinnliche S/M-Sequenzen (zur wunderschönen Musik Nora Orlandis). Sexualität traumatisiert die Figuren bisweilen, bisweilen gerät sie aber auch zum Verstoß gegen gesellschaftliche Tabus, welcher im Nachhinein gesühnt werden muss (was keinesfalls als reaktionäre Haltung verstanden werden muss, sondern auch als Rebellion gegen die Tabus ausgelegt werden kann); und manchmal ist die Sexualität in ihrer sadistischen Ausprägung auch einfach bloß gewalttätig oder gar kriminell (und umgekehrt handelt es sich bei einem Großteil aller Morde um Morde an hübschen, jungen Frauen). Argento hat besonders die traumatisierende Sexualität zum Charakteristikum des Giallos werden lassen: in "Profondo Rosso" (1975) weist der schwule Mörder eine ungesunde Bindung zur wahnsinnigen Mutter auf, seit er als Kind ihren Mord am Vater beobachtet hat (eine im Grunde sehr ödipale Geschichte), in "Tenebre" (1982) treiben den Mörder obskure Erinnerungen an die erotische Erniedrigung durch eine schöne Frau und ihre halbstarken Begleiter um, in "La Sindrome di Stendhal" (1996) wird nach mehrfacher Vergewaltigung durch einen Serientäter aus Asia Argentos Figur eine Mörderin mit gestörter Identität.
4.) Die Töne, das sind: Musik, Geräusche... gesprochen wird kaum. Der Soundtrack zitiert übrigens Ennio Morricone, Bruno Nicolai und Stelvio Cipriani.
5.) Neben den gewöhnlichen, wenngleich raren Giallofilmen der letzten Zeit gibt es - abgesehen von "Amer" und "Berberian Sound Studio" - mit "Masks" (2011) eine weitere nostalgische Giallo-Hommage, die allerdings eine qualitativ eher mäßige "Suspiria"-Variation darstellt. Soundtrack-Zitate bei Tarantino stellen eine weitere, jüngere Verbeugung vor dem Giallo dar... Nachdem das Genre selbst als Modeerscheinung der frühen 70er Jahre allmählich damit angefangen hat, langsam aber sicher zu versickern, ist nach dem Beginn der Postmoderne im Film und im Zeitalter leicht zugänglicher DVD-Veröffentlichungen & Sichtungsmöglichkeiten des Internets offenbar ein Raum entstanden, in dem sich derartige reflexive Metafilme ungebremst entfalten können.
Neben Retro-Regisseuren wie Michel Hazanavicius, Rob Zombie und Ti West, neben den Projekten von Tarantino und Rodriguez sind einzelne Titel wie "Isle of the Damned" (2008), "Chillerama" (2011) oder eben "Amer" und "Berberian Sound Studio" Beispiele für eine junge & kleine, aber wahrnehmbare Welle von Filmen, die Hommage, Retrolook, Parodie und/oder Reflexion auf eine recht frische Art und Weise mischen; eine Welle, dank der auch der Giallo wieder ein wenig in das Licht der Öffentlichkeit gerückt wird. Ob sie ihm jedoch langfristig einen Aufwind bescheren kann, sei dahingestellt... (Das offenbar gescheiterte Vorhaben eines "Profondo Rosso"-Remakes von George A. Romero hätte eventuell einen zusätzlichen Popularitätsschub bringen können... vielleicht wird ja das seit längerer Zeit angekündigte, vermutlich mit Isabelle Huppert besetzte "Suspiria"-Remake dafür sorgen können... zumindest bleibt ein Trost: auch wenn die Produktion neuer Gialli weiterhin immer rarer werden sollte, kann man immerhin auf das eine oder andere Remake hoffen.)