"Was hat denn das Mädchen ?" will Vincents Vater (Heino Ferch) von der Therapeutin Dr.Rose (Katharina Müller-Ernau) über Marie (Karoline Herfurth) wissen. Als er hört, dass sie anorektisch ist, winkt er einen Moment ab. Im Gegensatz zu seinem unter dem Tourette - Syndrom leidenden Sohn (Florian David Fitz) und dem Zwangsneurotiker Alexander (Johannes Allmayer), dem Dritten im Bunde, will sie ja nur nichts essen. Dr.Rose bemüht sich daraufhin sofort, zu relativieren - 30% sterben daran und Marie hätte wegen ihrer Mangelernährung einen Herzfehler. Nicht ohne Grund hatte sie ihr die Zwangsernährung angedroht - letztlich der Auslöser für die Flucht der drei Insassen aus der Therapieeinrichtung.
Dieser Dialog wird ausschließlich für den Betrachter des Films geführt. Anorexie in einem Stadium, wie er Marie hier angedichtet wird, benötigt keine sprachliche Relativierung, denn die Magersüchtige befände sich dann in einem optischen Zustand, der keiner Diskussion mehr bedarf. Karoline Herfurth ist zwar eine sehr schlanke Darstellerin, die zudem blass und kränklich geschminkt ist, aber natürlich ist sie ebenso gesund wie ihre beiden männlichen Pendants. Einen Film über Behinderte zu machen, ist immer ein Kompromiss zwischen einer zu direkten Konfrontation mit dem Krankheitsbild und dem Versuch, mit populären Mitteln eine möglichst große Zahl an Betrachtern für ein schwieriges Thema zu gewinnen.
Florian David Fitz, der überzeugend den an Tourette leidenden Vincent spielt, schrieb auch das Drehbuch und ersann für seine Geschichte einen möglichst einfachen Faden, der entsprechend schnell an Fahrt gewinnt. Nur eine Szene zu Beginn - die Beerdigung seiner früh verstorbenen, alkoholkranken Mutter - zeigt die Auswirkungen seiner Psychose in der Normalität, bevor sein Vater, ein von sich selbst sehr eingenommener Lokalpolitiker, ihn in die Therapieklinik einweist. Dort verweilt der Film ebenfalls nicht lange, zeigt nur kurz die ersten Begegnungen Vincents mit Marie, die ihm die Klinik zeigt, und Alexander, mit dem er sich ein Doppelzimmer teilen muss. Entscheidend für die Qualität des Films ist die Szene, in der Vincent mit Kindern aus der Nachbarschaft der Klinik konfontriert wird, die sich über seine Zuckungen lustig machen. Seine unkontrollierte Reaktion, bei der er eines der Kinder verletzt, nimmt seiner Krankheit die Harmlosigkeit.
Nachdem Vincent, Marie und der nur unfreiwillige Passagier Alexander mit dem Auto der Therapeutin abgehauen sind, beginnt ein Roadmovie, in dem sich Vincents Vater mit der Ärztin auf die Verfolgung macht. Konsequenterweise verzichtet Fitz bei dieser Konstellation auf überraschende Wendungen oder Nebenhandlungen, sondern verfolgt nur deren Weg über die Alpen nach Italien bis ans Meer, wo Vincents Mutter ein letztes Mal vor ihrem Tod hinwollte. Entscheidend sind nicht die Storyelemente, sondern die Emotionen der sich auf fünf Menschen beschränkenden Handlung. Besonders deutlich wird das bei dem Ausflug der drei Flüchtenden auf einen Berggipfel in den Alpen. Dass Marie zu dieser Wanderung bei ihrem körperlichen Zustand noch fähig wäre, kann realistisch ausgeschlossen werden, aber der Moment, als die Drei gemeinsam auf dem Gipfelkreuz sitzen, ist ein Höhepunkt des Films.
Anders als beim klassischen Drama, ist hier nicht die Entwicklung der Protagonisten entscheidend, sondern ihre Zustandsbeschreibung. Die Bewegung, die der Film vermittelt, gilt ausschließlich ihrer Umgebung - eine irgendwie geartete Lösung, gar eine mögliche Heilung für sie selbst, wird keinen Moment in Aussicht gestellt. Symbolisch für die Aussenwelt stehen Vincents Vater und Dr.Rose, die zuerst gezwungenermassen aufeinander angewiesen sind, bevor sie sich merklich näher kommen. Das der Film auch hier nur Nuancen spürbar werden lässt, kleine, nachvollziehbare Veränderungen beschreibt, verdeutlicht seine unmerkliche Qualität, die nichts an die große Glocke hängt.
Auf dieser Basis leistet sich "Vincent will Meer" die Freiheit, seinen Witz ohne Anbiederungen zu entwickeln. Weder macht er sich auf Kosten der Behinderten lustig, noch unterliegt er dem Zwang der "political correctness", sondern erreicht mit seinem lockeren, unverkrampften Umgang, der sich auch keiner zwanghaften realistischen Logik unterwerfen muss, dass er sich in eine große Reihe komödiantischer Road-Movies einreiht. Wer hier mangelnde Originalität bemängelt, hat die größte Qualität des Films nicht erkannt - man vergisst, dass hier Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt stehen, sondern begreift sie als das, was sie sind - Individuen (8/10).