Martin Scorsese – der Name sollte Gelegenheitsfilmschauer als auch Filmfreak ein Begriff sein. Die Liste seiner Meisterwerke ist lang, sie umschließt sowohl anspruchsvolle Dramen (Taxi Driver) als auch an Perfektion grenzende Mafiafilme (Good Fellas, Casino). Nebenbei prägte er ein gesamtes (Film-)Jahrhundert mit seiner stilistischen Perfektion. Bei vielen seiner Filme hat man das Gefühl, das jede Szene, ja sogar jede Einstellung genau überlegt ist, was sich problemlos auf seinen neuesten Film „Shutter Island“, der auf dem gleichnamigen Roman von Dennis Lehane (bekannt geworden durch Mystic River) basiert, übertragen lässt. Aber auch hier ist ihm kein Geniestreich oder Meisterwerk gelungen, aber ein guter Film, der dazu einlädt, mehrmals angesehen zu werden. Schon die Handlung ist sehr interessant und fesselt den Zuschauer:
Die US-Marshals Edward Daniels (Leonardo DiCaprio) und Chuck Aule (Mark Ruffalo) kommen 1954 in das Ashcliffe Hospital für psychisch gestörte Gewaltverbrecher, welches vor Massachusetts auf der Insel Shutter Island liegt. Brücken gibt es nicht, die einzige Verbindung zum Festland stellt eine Fähre dar. Der Grund für ihren Besuch ist, dass eine schwer gestörte Frau, die ihre drei Kinder ertränkt hat, aus der Anstalt ausgebrochen ist. Das Besondere an dem Fall ist, dass sie sich anscheinend in Luft aufgelöst hat, da sie sowohl aus ihrem von außen verschlossenen Zimmer entkam, als auch an den zahlreichen Wärtern vorbeigekommen ist, ohne dass diese sie bemerkten. Die anwesende Wachmannschaft ist nicht in der Lage, die Entflohene zu finden, kann aber eine Flucht aufs Festland ausschließen, da kein Mensch die Strecke durch das stürmische und kalte Meer hätte schwimmen können. Der sich hilfsbereit zeigende Psychologe Dr. John Cawley (Sir Ben Kingsley) unterstützt die Marshals bei ihrer Arbeit, weist aber zeitgleich auch auf den enormen Wert der Einrichtung hin, deren Image auf gar keinen Fall in Mitleidenschaft gezogen werden darf. Doch besonders Edward Daniels hat den Verdacht, dass auf Shutter Island hauptsächlich Menschenversuche durchgeführt werden und versucht, die dunklen Machenschaften der Klinik aufzudecken.
Schon zu Beginn des Films fährt Scorsese schwere Geschütze auf: Kaum von der Fähre runter, werden die Marshals zur eigentlichen Klinik gebracht, während dem Zuschauer schon erste Eindrücke von der psychischen Situation des Kriegsveteranen Edward Daniels gewährt werden, der durch den Stacheldraht der Anstalt an die Befreiung des KZ-Dachau erinnert wird, an der er direkt beteiligt war. Begleitet wird dies durch den minimalistischen, aber eindrucksvollen Score. Auch wird durch die Insel an sich sofort eine bedrückende Atmosphäre erzeugt. Shutter Island ist kein schöner Ort, sie gleicht einer Festung, vorne eine Anlegestelle für Boote, auf der Rückseite eine unpassierbare Klippenwand. Geprägt ist die Insel von der Klinik, welche wiederum in drei Bereiche aufgeteilt ist: Trakt A für die Männer, Trakt B für die Frauen und Trakt C für die gefährlichsten Verbrecher. Trakt C darf ohne ausdrückliche Genehmigung nicht betreten werden.
Die wichtigsten Charaktere werden sofort vorgestellt:
Edward Daniels ist ein traumatisierter Veteran aus dem 2. Weltkrieg, der zudem noch von Visionen von seiner bei einem Brand des Appartmenthauses umgekommenen Frau geplagt wird. Außerdem wird er von einer schweren Migräne heimgesucht, die es ihm schwierig macht, klare Gedanken zu fassen. Dr. John Cawley ist ein ambitionierter Arzt, der versucht, den Problemen seiner Patienten, die größtenteils Mörder sind, mit humanen Methoden beizukommen. Mark Aule ist der andere US-Marshal, der seinen Boss respektiert, jeder Anweisung nachkommt und Daniels so gut es geht unterstützt. Dass sein Charakter vergleichsweise unbeschrieben bleibt, ist kein als negativ zu wertender Punkt, da die Auflösung den „leeren“ Charakter schlüssig darstellt. Wie bei Scorsese Filmen üblich, wird fast jeder vorkommende Person ein logischer Charakter zu Teil, auf die ich jetzt nicht weiter eingehen werde. Es ist auf jeden Fall eine Freude, mit wie viel Liebe zum Detail hier Personen kurz dargestellt werden.
Sehr beeindruckend und ausführlich wird die Psyche von Edward Daniels ausgeleuchtet. Er hasst Nazis seit seinen Erlebnissen im Dachauer Konzentrationslager über alles und verabscheut die menschenverachtenden Methoden des faschistischen Regimes. Umso mehr ist er entsetzt, dass anscheinend die selben Methoden in seinem eigenen Land angewendet werden, nur das psychisch gestörte Verbrecher und nicht Juden die Opfer sind. Er ist davon überzeugt, dass hinter dem Ashcliffe Hospital eine verbrecherische Institution steckt, der er das Handwerk legen muss. Dennoch gesteht er Aule, dass er nicht zufällig nach Shutter Island geschickt wurde, sondern sich freiwillig gemeldet hat, um Andrew Laeddis, dem Mann, der einst das Appartmenthaus angezündet hat und daher Daniels Frau auf dem Gewissen hat, zu finden. Auch misstraut er allen Angestellten, nach einem Gespräch mit einem Patienten auch seinem eigenen Partner. Zugleich trauert er seiner umgekommenen Frau nach, die er nicht loslassen kann. Sie erscheint ihm in Visionen, oft versucht sie ihm zu helfen, ihre Botschaften scheinen aber eher destruktiv zu sein, sie empfiehlt ihm u.a. die Insel sofort zu verlassen. Zudem ist er sehr mitgenommen durch seine Erlebnisse im 2. Weltkrieg, die perfekt in den Film eingebunden werden und nicht aufgesetzt wirken. Gerade durch die Auflösung bekommen diese Traumsequenzen eine neue Bedeutung und werden dadurch noch wichtiger.
Die Handlung ist ausgezeichnet und lässt den Zuschauer immer tiefer in das Geheimnis um Shutter Island eintauchen. Aber ausgerechnet die an sich grandiose Handlung zeigt leider das größte Manko des Films: er ist einfach zu lang. Die Geschichte gewinnt immer mehr an Fahrt, man will unbedingt wissen, was es mit der Patientin auf sich hat, die dann einfach nach noch nicht mal der Hälfte des Films wieder da ist. Auch das passt vielleicht logisch zur Auflösung, raubt dem Film aber dennoch einiges an Tempo und enttäuscht zudem den Zuschauer, da u.a. auch nicht geklärt wird, wie es der Patientin denn nun gelungen ist, aus dem Zimmer auszubrechen. Von da an wird der Film vor allem durch den Versuch Daniels, das eigentliche Geheimnis um Shutter Island zu lüften, angetrieben. Das ist keinesfalls schlecht, aber auch hier verliert der Film an Fahrt: Dem Zuschauer werden eine ganze Zeit lang zahlreiche Beweise dafür geliefert, dass an der psychiatrischen Klinik was faul ist, aber dabei wird die Auflösung nur hinausgezögert, sodass einige Szenen (bspw. das zu lang geratene Treffen mit der Psychologin in der Höhle) einfach überflüssig wirken und auch nicht wesentlich zum Verständnis beitragen und somit den Film hinauszögern. Die ebenfalls an sich hervorragenden und passenden Traumsequenzen reißen einen manchmal komplett aus der eigentlichen Handlung raus, teilweise ohne irgendetwas zur Story beizutragen, sondern den eh schon perfekt dargestellten Charakter Daniels weiter zu vertiefen, was allerdings ziemlich überflüssig wirkt und im Endeffekt auch ist. Dieses Manko stört den Filmgenuss gerade in der Mitte des Films erheblich, die Auflösung wiederum kommt zu schnell, um dafür zu entschädigen. Für dieses Manko ziehe ich dem Film 2 Punkte ab. Die Auflösug ist wie schon erwähnt sehr, sehr gut und wirkt auch nicht aufgesetzt, wie es bei einigen anderen Genrevertretern der Fall ist.
Aus schauspielerischer Sicht gib es aber nichts zu bemängeln, gerade Leonardo DiCaprio beeindruckt mit einer fantastischen Performance und dominiert den Film, was aufgrund der Handlung aber auch kein Kunststück ist. DiCaprio zeigt, dass er mittlerweile ein mehr als ernstzunehmender Schauspieler ist. Scorsese hat gut daran getan, ihn ein viertes Mal zu engagieren. Über Sir Ben Kingsley brauche ich nicht viele Worte zu verlieren, er spielt den Psychologen so, als wäre er selbst einer und schafft es mühelos, sich gegen DiCaprio in den gemeinsamen Szenen zu behaupten. Mark Ruffalo ist angesichts von zwei so talentierten Schauspielern in der Lage, seiner Figur eine gewissen Leinwandpräsenz zu verleihen und überzeugt als US-Marshal Aule. Die Nebenrollen sind ebenfalls prominent besetzt, Max von Sydow ist ein Kollege von BenKingsley, Ted Levine spielt den Anstaltsdirektor, hat allerdings nur ein (sehr gut in Szene gesetztes) Zusammentreffen mit DiCaprio. Auch erwähnenswert ist der Auftritt von Elias Koteas als Andrew Laeddis, der zwar nur eine kurze Screentime hat, aber diese immerhin voll ausnutzt. Die anderen Schauspieler stellen ihre Rollen sehr gut dar, sodass es oft eine Freude ist, ihnen zuzusehen.
Was die Regie betrifft, gilt: Wo Scorsese draufsteht, ist auch Scorsese drin. Stilistisch ist der Filme nahe der Perfektion, was allerdings angesichts eines so bedeutenden Regisseurs schon fast als selbstverständlich betrachtet wird. Martin Scorsese gelingt es, die bedrückende Atmosphäre von Shutter Island perfekt hervorzuheben, zu der sich noch ein Gefühl des Ausgeliefertseins gesellt. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle der Sturm, der darstellt, dass die beiden Marshals auf der Insel festsitzen und der durch die Auflösung noch soetwas wie einen „tieferen Sinn“ bekommt. Dem Regisseur ist es auch gelungen, die Psyche Daniels und die zahlreichen Charaktere perfekt in den Film zu integrieren und auch entsprechend darzustellen.
Robbie Robertson, u. a. verantwortlich für den Soundtrack zu „Wie Ein Wilder Stier“, hat einen eher minimalistischen, aber trotzdem völlig ausreichenden Score geschaffen, der den Film sehr bereichert.
Abschließend lässt sich sagen, dass aus dem Film ein Meisterwerk hätte werden können, wäre die Handlung um die nervigen Längen gestrafft worden. So ist „Shutter Island“ ein „nur“ guter Film, der vor allem durch seine ausgefeilten Charaktere, die von sehr talentierten Schauspielern dargestellt werden, und seinem exzellenten Regisseur hervorsticht.