Während andere sich, der goldenen 70 nähernd langsam aufs Altenteil zurückziehen, steuert Martin Scorsese immer noch mit geblähten Segeln durch kreative Untiefen, er muß nur inzwischen niemandem mehr etwas beweisen, nachdem Hollywood sich im x-ten Anlauf endlich hat breitschlagen lassen, nach etwa einem halben Dutzend fataler Fehlentscheidungen den entscheidenden Oscar an den Regisseur auszugeben, wenn auch für "The Departed", einem ausgezeichnet gespielten, aber vielleicht nicht dem besten Film des Künstlers - aber bei wem ist das im Gesamtverhältnis schon der Fall gewesen.
Dementsprechend müßte "Shutter Island" auch ein Kandidat für Awards sein, denn mag er nicht auf den ersten Blick gewichtig oder wertvoll ausschauen, so ist er doch breitflächig gelungen, wenn auch auf verdammt finstere Art und Weise.
Scorsese hat in den letzten Jahren seinen Takt gefunden und einen neuen Schüler noch dazu: Leonardo di Caprio hat die Rolle von Robert de Niro übernommen und führt mit dem Regisseur einen kreativen Austausch der Künste, wovon der eher typisierte Darsteller auf lange Sicht mehr haben wird - dennoch garantiert die Paarung, daß bei jedem Film der beiden (und es ist der Vierte) die Kritiker Schlange stehen und jeder dazu etwas zu kommentieren hat. Und sieht man sich den kreativen Verlauf an, vom mißkonzeptionierten "Gangs of New York" über den bemühten "Aviator" bis zum intensiven "The Departed", so darf man auf folgende Werke enorm gespannt sein.
Scorsese widmet sich hier mal einem Thema, für das er jetzt nicht unbedingt berüchtigt ist, dem Psycho-Thriller (wenn er in dem Genre mit "Cape Fear" auch schon erfolgreich reüssiert hat) und versenkt sich komplett in der abgründigen Vorlage Dennis Lehane, der schon für so zersetzend-verzweifelte Vorlage wie "Mystic River" und "Gone Baby Gone" verantwortlich war.
Das Thema: das Verschwinden einer Insassin aus einer Nervenheilanstalt, die sich auf einer abgelegenen Insel befindet und keine Fluchtmöglichkeit zuläßt, untersucht von zwei Bundesbeamten. Die Location ist ein sturmumtoste Stück Wildnis, auf dem sich über 60 teils hochgefährliche Patienten tummeln, inclusive reichlich Wachpersonal. Und natürlich gibt es da düstere Geheimnisse zu entdecken...
...gibt es wirklich?
Und mit dem Fragezeichen kippt der Zuschauer in einen Abgrund aus immer mehr offenen Fragen, die beantwortet werden müßten, die aber nur noch größere Verwirrung hervorrufen. Scorsese inszeniert konsequent eine Atmosphäre der kompletten Verunsicherung, die sowohl den Protagonisten wie dem Publikum einflüstert, daß etwas nicht stimmen kann, nicht stimmen muß, daß etwas Fatales passieren wird und reißt alle auf einer emotionalen Achterbahn mit.
Die Verantwortlichen, die Leiter und die Wachleute zeigen sich kooperativ und hilfsbereit, aber je länger sich di Caprio und der mehr als solide Mark Ruffalo dort aufhalten, desto mehr befürchtet man, sie könnten sich darin verlieren. Erst gibt man die Waffen ab, dann schläft man bei den Wachleuten, schließlich tragen sie notgedrungen sogar Pflegerkleidung, die auch ein Insassendress sein könnte. Überall tauchen neue Hinweise auf, die darauf hinweisen, daß es neben der Geflohenen noch einen unbekannten Patienten gibt - und ist der eine Arzt nicht früher ein Nazi gewesen. Werden hier geheime Experimente durchgeführt? Oder sind das alles nur Phantasien eines oder mehrerer Wahnsinniger?
Es ist ein reizvolles Spiel und wenn man ihm etwas vorwerfen will, dann daß es einen Hauch überladen ist, denn di Caprios ungemütlicher Aufenthalt wird noch dazu durch zunehmende Alpträume und Visionen belastet, die teilweise aus dem Krieg (KZ-Befreiungerlebnisse) und teils aus dem Privatleben entstammen (offenbar in einem Brand verstorbene Frau). Aber ist nun seine Psyche angegriffen oder wird er durch die ganzen Drinks und angeblichen Kopfschmerztabletten in diesen Zustand überführt, willenlos gemacht oder gar paranoid.
Das Publikum strandet so in einem monumentalen Puzzlespiel, das sich in schöner Regelmäßigkeit alle 15 Filmminuten selbst überwirft, widerspricht oder in sich zurückläuft. Kaum glaubt man einen entscheidenden Faden in der Hand zu haben, wird er auch schon wieder aufgefasert, entwertet oder neutralisiert, wenn nicht ins Gegenteil verkehrt.
Immer wieder muß man auf Null zurück und den Referenzrahmen erweitern, bis schließlich sogar die Eingangsszenen des Films nicht mehr Sicherheit bieten wie eine Nacht in der Gummizelle.
Dafür bedient sich Scorsese geschickt in der Horrorgrabbelkiste klassischen Zuschnitts, mit palavernden Irren im Halbdunkel, bizarren Visionen, mutierenden Träumen, Überbelichtungen, Sturm und Gewitter und einer Kulisse, die auch Boris Karloff zur Ehre gereicht hätte.
Und das alles nicht für die simple Auflösung oder noch schlimmer, Übertölpelung des Zuschauers, alles dient einem Zweck, einer im Finale erst ersichtlichen Komposition, die vom Zuschauer verlangt, das Gesehene unter neuen Aspekten noch einmal zu rekapitulieren und sich trotzdem nicht sicher zu sein. Ziemlich sicher, aber eben nicht hundertprozentig sicher - und den Downer von einem Ende verpackt der Regisseur auch noch so geschickt, daß man praktisch erleichtert ist, endlich etwas (scheinbar?) definitiv begriffen zu haben.
"Shutter Island" ist nichts anderes als ein kompliziertes und hochanspruchsvolles Rätselspiel, daß den Zuschauer in sich aufsagt und in dem Leonardo di Caprio praktisch um sein Leben spielt (wenn auch manchmal mimisch etwas übertrieben betont), weil er für uns alle und eine gesunde Psyche ringt, ohne zu wissen, wer gesund und wer krank ist.
Die Möglichkeiten, wer was getan hat oder ob alles nur Einbildung ist oder ein Komplott oder eine Therapie hat man bis dahin schon mehrfach komplett im Kopf durchgespielt, um nur wieder in eine andere Richtung geführt zu werden oder komplett ausgebremst. Die Sogwirkung, die hypnotischen Bilder von Trauer, Schmerz, Abgründigkeit, Gewalt und Wahnsinn verhindern, daß man sich übertölpelt führt und so erweist sich Scorsese erneut als unprätentiöser Meister des Mediums.
"Shutter Island" ist brutale, erschöpfende Arbeit und dennoch ein vibrierendes Kunstwerk, daß man erlebt haben muß - man kann ihm unterliegen, aber die Schlacht lohnt sich trotzdem. Wunderschön abgrundtief schwarz: 8/10!