Review

Shutter Island (2010)

Ich persönlich hatte die Hoffnung, dass Martin Scorsese mich noch einmal begeistern könnte, längst aufgegeben. Natürlich liegen seine Meisterwerke längst hinter ihm, natürlich muss er niemandem mehr etwas beweisen, und natürlich ist sein Output noch immer alles andere als langweilig.
Doch Filme wie „The Departed“ oder „Shutter Island“ zeigen, dass das nicht die Werke des Mannes sind, der einmal „Mean Streets“ und „Taxi Driver“ gedreht hat. Scorsese hat sich über die Jahre zu einem Stilisten entwickelt, dem die Pose wichtiger wurde als der Inhalt, der Soundtrack bedeutender als die Haltung. Zwischen scheinbar verwandten Filmen wie „Mean Streets“ und „Goodfellas“ liegen Welten, und die sind zweifellos ideologischer Natur.
Während New Hollywood-Veteranen wie Paul Schrader noch immer versuchen, anzuecken, zu provozieren, und zu hinterfragen („The Walker“, „Adam Resurrected“), will Scorsese vor allem überzeugen, verführen, unterhalten. Der Kinofreak bewegt sich längst in seiner eigenen Kinowelt, er fühlt sich keinem Bildungsauftrag verpflichtet, wie beispielsweise Oliver Stone („JFK“, „Nixon“, „W.“), nein, für Scorsese gilt l’art pour l’art, heute mehr denn je. Das gilt in besonderem Maße für „Shutter Island“, und ausgerechnet dieser Grundsatz macht den Film zu einem der überzeugendsten Scorsese-Filme seit „Cape Fear“.

Amerika im Jahre 1954. Die beiden US Marshalls Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) und Chuck Aule (Mark Ruffalo) sollen auf Shutter Island das Verschwinden einer Patientin aus einer Nervenheilanstalt untersuchen. Die Einrichtung für psychisch kranke Schwerverbrecher wird von dem ominösen Dr. Cawley (Ben Kingsley) geleitet, der sich sehr verschlossen gibt, und bei den Ermittlungen nicht gerade behilflich ist. Dazu gesellen sich verängstigte Pfleger, Wärter und Patienten, alle scheinen mehr zu wissen als sie zugeben. Je tiefer Daniels in den Fall eindringt, je mehr erschreckende Details ans Licht kommen, desto undurchsichtiger wird das Ganze. Nur der Wahnsinn scheint mehr und mehr auf Daniels abzufärben.

„Shutter Island“ ist ganz klar ein A-Film, die Ausstattung ist edel, die Schauspieler prominent, und doch verfügt er über eine geradezu befreiende B-Movie-Atmosphäre.
Kein Wunder, präsentiert sich der Film doch deutlich als film noir, inhaltlich wie formal: DiCaprios Teddy Daniels ist ein echter hard-boiled-Charakter, ein tough guy, mit klaren Vorstellungen von gut und böse, richtig oder falsch. Seine Prinzipien sind auch das Einzige, was ihm geblieben ist, zehrt er doch noch von diversen traumatischen Ereignissen (seine Militärzeit, bei der er Dachau mitbefreit hat; der Tod seiner Frau), die ihn auf der Insel wieder einholen.
Der innerlich zerrissene Einzelkämpfer (den DiCaprio eigentlich in allen Scorsese-Filmen darstellt) kämpft vergeblich gegen ein undurchdringliches System an, er kann keinem trauen, am Ende nicht einmal sich selbst.

Die allgegenwärtige Bedrohung manifestiert sich auch im dumpfdröhnenden Soundtrack, der in seiner herrmannesken Wucht an die Musik aus „Cape Fear“ (Original und Remake) erinnert.
Auch das Setting trägt deutlich alptraumhafte Züge: wenn sich Daniels durch den düster-katakombenartigen Block der Anstalt bewegt, mit einem Streichholz als einzige Lichtquelle, fühlt man sich teils an klassischen Gothic-Horror, teils an Tortureporn-Filme wie „Hostel“ erinnert.

Scorsese ist seinem Publikum und sich selbst gegenüber lange nicht mehr so ehrlich gewesen. „Shutter Island“ ist reinstes Zitatenkino, das weder besonders clever noch originell sein will. Scorsese führt uns an der Hand, und durchstreift mit uns die Filmgeschichte. Mehrfach erinnert der Film an „Das Cabinet des Dr. Caligari“, auch „Psycho“ wird zitiert (mal mehr, mal weniger plump), auch neuere, postmoderne Spielereien wie „Angel Heart“, „The Game“ oder „The Machinist“ kommen in den Sinn.
Dennoch kann man Scorsese keine zwanghaften Zitatorgien á la Tarantino nachweisen, denn „Shutter Island“ ist ein gut konstruierter, moderner film noir, der ganz deutlich an sein „Cape Fear“-Remake anknüpft, und dem Kosmos der hard-boiled fiction angehört.

Gerade, dass sich Scorsese auf B-Movie-Inhalt verlässt, auf cheap tricks, überzogen bedrohliche Musik, und Schauspieler nah am Overacting, das macht „Shutter Island“ so schön altmodisch (um nicht zu sagen anachronistisch), aber auch überzeugend.

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