Trimmel und das Wechselbalg
„Freundschaft!“ – „Was is‘?“ – „Tach mein‘ ich…“
Am 29. November 1970 nahm eine der weltweit langlebigsten Fernsehkrimireihen ihren Anfang: Der „Tatort“ war geboren und mit ihm sein erster Ermittler: Der von Walter Richter („Pippi außer Rand und Band“) gespielte Hamburger Kommissar Paul Trimmel. Wobei das eigentlich nicht ganz stimmt: Debütiert hatte diese Figur bereits 1969 im Fernsehfilm „Exklusiv!“, der später mit einem „Tatort“-Vorspann versehen und der Reihe hinzugefügt wurde. Und in Papierform existierte sie noch etwas früher: Trimmel hat seinen Ursprung in Friedhelm Werremeiers Romanreihe, dessen erster Band „Ich verkaufe mich exklusiv“ von Werremeier höchstpersönlich für „Exklusiv!“ in Drehbuchform gebracht wurde. Ähnlich verlief es bei „Taxi nach Leipzig“: Der Roman stammte von Werremeier, das Drehbuch von Werremeier und Peter Schulze-Rohr, welcher auch die Regie führte.
„Kannst‘ das nicht selber wegschmeißen?“
Eine Autobahnraststätte in der Nähe Leipzigs wird zum Fundort eines toten Jungen. Da dieser Schuhe aus der BRD trug, wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft der DDR mit einem Amtshilfeersuchen bei den BRD-Strafverfolgungsbehörden. Zwar wird das Ersuchen recht schnell zurückgezogen, da man davon ausgeht, dass der Junge an einer besonders aggressiven Leukämie gestorben sei, doch dem Hamburger Kripokommissar Trimmel lässt der Fall keine Ruhe. Telefonisch kontaktiert er seinen ostberliner Kollegen Karl Lincke (Erwin Klietsch, „Alarm“, in seiner letzten TV-Rolle), mit dem er bereits vor der Gründung beider deutscher Staaten zusammengearbeitet hatte und sich freundschaftlich verbunden fühlt. Nachdem ihm dieser den Namen des Toten und dessen Eltern verraten hat, ermittelt er zunächst in der vornehmen Hamburger Elbchaussee auf der Suche nach dem vermögenden Chemiker Erich Landsberger (Paul Albert Krumm, „Jeder stirbt für sich allein“), dem unehelichen Vater des Jungen. Die Kindsmutter Eva Billsing (Renate Schroeter, „Die Ratten“) hatte den Leichnam in der DDR als gemeinsamen Sohn Christian identifiziert. Doch Landsberger ist mit seinem zweiten Sohn nach Frankfurt am Main umgezogen. Als Trimmel dort aufschlägt, gibt Landsberger sich abweisend, doch Trimmel fällt der sächsische Dialekt des Sohnemanns auf. Daraufhin reist Trimmel auf der Transitstrecke in Richtung West-Berlin, fingiert eine Autopanne und eilt per Taxi nach Leipzig, um Eva Billsing im Leipziger Vorort Markkleeberg aufzusuchen. Doch statt ihrer lernt er ihren Freund Peter Klaus (Hans Peter Hallwachs, „Tamara“) kennen, einen Oberleutnant der Volkspolizei, der Trimmel unmissverständlich klarmacht, in der DDR unerwünscht zu sein…
„Keine Sauereien, nüscht Sexuelles!“
Alles beginnt mit einer Kontrolle an der „innerdeutschen Grenze“, die vielmehr die Grenze zwischen den beiden Weltmächten NATO und Warschauer Pakt ist. Später wird Trimmel ermitteln, dass es sich beim Kontrollierten, der mit seinem schlafenden Sohn unterwegs ist, um Landsberger handelte. Trimmel ist ein etwas knautschiger, zigarrerauchender, um kein Schnäpschen verlegener Kommissar in den 60ern seiner Lebensjahre, doch in den sozialliberalen 1970ern des Zeitgeists. Er ist ebenso wenig kalter Krieger wie die Macher dieses „Tatorts“, denn „Taxi nach Leipzig“ tritt keinesfalls an, die DDR zu diskreditieren. So wirklich viel scheint sich hier ohnehin nicht zwischen BRD und DDR zu unterscheiden, wobei natürlich nicht an Originalschauplätzen gedreht wurde. Im Autoradio läuft zwar der Oktoberklub, doch ansonsten schien man bemüht, DDR-Klischees zu umschiffen – hatte aber möglicherweise auch schlicht keinen Schimmer, wie so ein Leipziger Vorort eigentlich aussieht. Um ehrlich zu sein: Ich weiß es auch nicht.
Die unterschiedlichen Systeme werden hier also schon mal nicht verhandelt, ihre Existenz ist jedoch allgegenwärtig, nicht nur in scherzhaften Dialoganspielungen. Trimmel, der keinen Partner, aber den uniformierten Kollegen Kriminalmeister Höffgen (Edgar Hoppe, „Großstadtrevier“) zumindest im Büro an seiner Seite hat, kommt ganz schön rum: erst Hamburg, dann Frankfurt, im Anschluss die Transitstrecke, Tankstellen, irgendwann schließlich das eigentlich recht idyllisch anmutende Markkleeberg. Dort endlich wird auch Trimmel jenem Pärchen begegnen, das bisher, parallel zu Trimmels Szenen geschnitten, dem „Tatort“-Publikum einen Wissensvorsprung verschafft hatte. Wer wie Trimmel den Dialekt des noch lebenden Landsberger-Sohns vernommen und richtig eingeordnet hat, kommt vermutlich recht schnell hinter das Rätsel des Kindertauschs, alle anderen, so auch der Verfasser dieser Zeilen, brauchen noch etwas, um durchzusteigen. Überhaupt, die Dialekte: Trimmel berlinert für einen Hamburger auffällig stark, die (Vorort-)Leipziger hingegen sächseln so gut wie gar nicht – woher hat der Junge das also bloß?
Die Action in diesem „Tatort“ beschränkt sich auf eine Prügelei zwischen Trimmel und Evas Freund Peter, die wohlgemerkt entbrennt, nachdem Trimmel (!) frech geworden war. Spannend ist die ganze Angelegenheit durchaus, wenngleich es lange den Anschein hat, als gäbe es gar keinen Mord. Der Fall scheint schon gelöst, da zeigt ein Blick auf die Uhr, dass „Taxi nach Leipzig“ noch ein paar gute Minuten vor sich hat, und tatsächlich geht’s weiter, und zwar mehr nach Art eines Beziehungsdramas, weniger eines Krimis. Liebe in Zeiten zwei voneinander abgegrenzter Staaten. Und zwei ebensolcher Männer. Schwierig, schwierig. Entscheidungen sind zu treffen. Gut, dass man eine solch verständnisvolle Vaterfigur wie Trimmel an seiner Seite hat. Also bleibt das alles ohne juristische Folgen? Trimmel ist ein Fuchs, die Handlung nimmt eine weitere Wendung und überraschend wird doch noch ein Mordfall daraus. Und wie Trimmel damit umgehen wird, bleibt offen.
„Taxi nach Leipzig“ vereint bereits vieles, was lange Zeit typisch und sinnstiftend für die „Tatort“-Reihe sein sollte: Zeitkolorit, das Aufgreifen aktueller gesellschaftlicher Themen und ihre kritische Abwägung in Form unterhaltsamer, spannender, auch mal provokant erzählter Stoffe, soziales Interesse – was ihn zu einer Art Gegenwartsgeschichte und -kultur konservierendes TV-Krimi-Gedächtnis machte. Nur die Regionalität bleibt hier noch auf der (Transit-)Strecke. Trimmel ist ein einerseits mit beiden Beinen auf dem Boden gebliebener Kumpel- und Trinkertyp, der andererseits zumeist erhaben über den Dingen zu stehen scheint und keinerlei feindsinnige Agenda verfolgt. Hier und da holpert dieser grundsätzlich ansprechend inszenierte und tadellos geschauspielerte Fall dramaturgisch ein wenig, und ob sein komplexes Tatmotivgebilde allen kritischen Betrachtung standhalten würde, ist schwer zu sagen, denn dafür erfährt man die Vorgeschichte zu beiläufig und subjektiv von den Figuren in Dialogform geschildert. Dass am Ende aber zu befürchten steht, der sympathische Trimmel könne den Mörder eines Kindes decken, weil dieses schließlich ohnehin bereits halbtot gewesen sei, stößt auf und halte ich für moralisch mindestens bedenklich…
Freundschaft? Vielleicht.