Jessup Dolly wird von der Polizei gesucht, weil er Crystal Meth hergestellt haben soll. Der schon wegen des gleichen Vergehens vorbestrafte Mann war verschwunden, nachdem er gegen Kaution frei gekommen war. Innerhalb von sieben Tagen muss er vor Gericht erscheinen, sonst verliert er seinen gesamten Grundbesitz, den er als Sicherheit für seine Kaution verpfändet hatte. Damit wird sein Abtauchen vor der Polizei zu einem Problem für seine Familie, die unter schwierigen Bedingungen in dessen herunter gekommenen Haus lebt. Als die 17jährige Ree (Jennifer Lawrence) von dem Sheriff davon erfährt, gilt ihr erster Gedanke dem Vater, aber keineswegs aus emotionalen Gründen, sondern nur aus dem Instinkt heraus, überleben zu wollen - sie, ihre beiden jüngeren Geschwister und ihre depressive Mutter.
Entfremdung von dem Vater, der seine Familie im Stich lässt, eine lebensuntüchtige Mutter und schwierige materielle Verhältnisse, sind nicht neu in der Beobachtung einer amerikanischen Realität, deren Streben nach Umsatzsteigerung und Reichtum, Unmengen von Brachland hinterlässt, die ein noch minderjähriges Mädchen dazu zwingen kann, Verantwortung für ihre Familie zu übernehmen. Auch die sich aus ihrer Situation ergebenden Konsequenzen, können Niemanden wirklich überraschen, denn ihre Suche nach dem Vater, führt sie unmittelbar in die Kreise der Drogenhersteller und Dealer, also in eine Umgebung, in der jeder Neugierige in Todesgefahr gerät.
Solche Szenarien, die in den Ghettos amerikanischer Großstädte oder in heruntergekommenen Vorstädten stattfinden, unter Menschen, denen jede Perspektive verloren gegangen ist, sind ein nach wie vor wichtiges, wie unangenehmes Sujet im amerikanischen Film, aber "Winter's Bone" geht darüber hinaus und verdeutlicht damit einen Verfall, der längst in Bereiche vorgedrungen ist, die ursprünglich als die solide konservative Basis der amerikanischen Gesellschaft galten. Dahinter verbirgt sich der eigentliche Subtext der Geschichte über die Farmerstochter Ree, die so selbstbewusst und widerstandsfähig ist, wie man es von einer jungen Frau erwarten darf, die inmitten der weitläufigen Wälder des Ozark-Gebirges in der zentralen USA aufwuchs und der körperliche Arbeit nicht fremd ist.
Doch sie befindet sich mit diesen Eigenschaften in einer Umgebung, in der jeder Bewohner diese Härte mitbringt, die zum Überleben notwendig ist. Neben den wettergegerbten Gesichtern, den stämmigen Figuren und der pragmatischen Kleidung, verfügt "Winter's Bone" noch über eine Vielzahl klassischer Elemente, die für das Leben auf dem amerikanischen Land typisch sind - es sind Verhaltensregeln wie das strenge Patriarchat, indem nur die Männer etwas zu sagen haben, die Frauen aber dafür sorgen, das die Regeln eingehalten werden, aber auch folkloristische Elemente wie das Banjo, die Holzstapel vor den Häusern oder das gemeinsame Musizieren sind noch Bestandteile des täglichen Lebens.
Auch die Nachbarschaftshilfe, der Zusammenhalt unter der ausschließlich weißen Bevölkerung dieser schwach besiedelten Landstriche oder der über allen thronende "Big Boss" existieren hier noch, aber ihre Funktionen sind inzwischen pervertiert. Waren sie unter den ersten Siedlern notwendige Verhaltensmuster, um für alle ein Auskommen zu ermöglichen, sind sie inzwischen ins Gegenteil umgeschlagen und führen zur inneren Zerstörung der sozialen Gemeinschaft. Die Drogen, die der Story den Hintergrund geben, sind nur ein äußerliches Element, das symbolisch für eine Veränderung steht, auf die die althergebrachten Strukturen keine Antworten wissen.
Ree begegnet auf ihrer Suche nach ihrem Vater nur Verwandten, beginnend bei dessem Bruder Teardrop (John Hawkes), aber trotzdem stößt sie nur auf offen feindliche Reaktionen. "Winter's Bone" ist entsprechend kein klassischer Thriller, wie die Suche nach einem Vermissten äußerlich den Anschein haben könnte, sondern die Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft im Umbruch. Auch Ree selbst hat keinen Moment Interesse daran, zu erfahren, wer oder was hinter dem Verschwinden ihres Vaters steckt, ihr ist es auch egal, wie es ihm geht, einzig ihr Überlebenswille motiviert sie, trotz der offensichtlichen Todesgefahr, weiter nach ihm zu suchen. Letztlich ist auch sie nur ein Teil dieser Gesellschaft, denn einzig ihre persönliche Situation führt zu ihrem Kampf gegen die ehernen Gesetze der Hierarchie und des Schweigens, die sie nie grundsätzlich in Frage stellt.
Darin liegt die Subtilität des Films, der nicht einfach ein degeneriertes Bild eines ärmlichen Amerika zeigt, dessen Existenz man einfach als Randerscheinung abtun könnte, sondern der auch immer wieder Zeichen von Hilfe und Solidarität unter den Menschen aufflackern lässt. In "Winter's Bone" greifen zum Schluss noch einmal die ursprünglichen Regeln, aber darin liegt kein wirklicher Trost, denn der Film verdeutlicht eine Spirale, die sich eindeutig in einer Abwärtsbewegung befindet - und das kann man durchaus generell verstehen (8,5/10).