Review

Ein Pfaffe hing am Glockenseil...

„Absinthus spiritus sanctus und simsalabim!”

Mit seiner Verfilmung einer seit Generationen überlieferten Alpensage ist es dem schweizerischen Regisseur Michael Steiner („Grounding – Die letzten Tage der Swissair“) in schweizerisch-österreichisch-französischer Koproduktion gelungen, nach einem u.a. durch Finanzierungsprobleme schwierigen Entstehungsprozess im Jahre 2010 einen Film zu veröffentlichen, der in einer ungewöhnlichen Mischung Mystery-, Märchen-, Horror- und Heimatfilm-Elemente zu einem originellen, eigenständigen Ganzen vereint.

Die Gegenwart: Ein kleines Mädchen stößt beim Spielen auf einen sie mit einem Spiegel blendenden Jungen und auf eine verscharrte Knochenhand. Wie sich herausstellt, gilt der Junge seit 1975 als vermisst... Schnitt ins Jahr 1975: Ein Pfaffe wird aufgeknüpft aufgefunden. War es Selbstmord? Während der Beerdigung taucht eine mysteriöse junge, stumme Frau (Roxane Mesquida, „Rubber“) auf. Der Dorfbevölkerung ist sie suspekt, für die örtliche Kirche ist sie ein vom Teufel besessener Dämon. Polizist Reusch (Nicholas Ofczarek, „Tatort“) glaubt nicht an den Hokuspokus und nimmt sie unter seine Fittiche. Doch durch die erbarmungslose Jagd der Kirche ist sie gezwungen, ein Leben auf der Flucht zu führen, das sie schließlich hoch in die Berge führt, wo sich Senner Erwin (Andrea Zogg, „Tatort“), dessen behinderter Sohn Albert (Joel Basman, „Löwenzahn – Das Kinoabenteuer“) und der flüchtige Frauenmörder Martin (Carlos Leal, „Zerrissene Umarmungen“) dem Absinth-Rausch hingeben. Im Vollsuff rufen sie das Sennentuntschi herbei, das, wie es die Legende besagt, nach einem Ritual auftaucht und den einsamen Älplern zur Verfügung steht, sich im Falle sexuellen Missbrauchs aber grausam rächt, indem es ihnen die Haut abzieht und zu Puppen verarbeitet.

Wer ist diese Frau wirklich? Ist sie eine geschundene Kreatur oder tatsächlich das dämonische Sennentuntschi? Und wer wenn nicht sie ist für den Tod des Pfaffen verantwortlich? Diese und andere Fragen wirft die Handlung auf, die in der ausgedehnten Rückblende ins Jahr 1975, die den eigentlichen Film darstellt, in ineinander verschachtelten, unterschiedlichen Zeitebenen erzählt wird. Dabei wirken die pittoresken Bilder der Alpengegenden tatsächlich wie einem schwülstigen Heimatfilm entlehnt, konträr dazu vollzieht sich aber die Geschichte um Aberglaube, Mord, Vergewaltigung und menschliche Abgründe, während Reusch nach Art eines Krimis bzw. Thrillers ermittelt und den Zorn der Bevölkerung auf sich zieht. Die Mystery-Anleihen lassen den Zuschauer lange Zeit im Dunkeln, was es nun genau mit der Sennentuntschi-Sage und dem unbekannten, doch hochattraktiven Mädchen auf sich hat. Das sowohl um Horror- als auch Rape-and-Revenge-Drama-Elemente angereicherte, durchaus grafische Finale wirkt innerhalb diese der Heimatidylle bizarr und auf eine ganz eigene Art erschreckend.

Den Weg dorthin gestalten die Schauspieler durch hervorragende Leistungen, die die mehrschichtigen Charakterisierungen ihrer Rollen gut und emotional herausarbeiten. Auch gibt man sich recht freizügig, was im Falle Roxanne Mesquidas für etwas Erotik sorgt, während die Nudität der männlichen Darsteller den Realismus gewisser Szenen unterstreichen soll. Das Spiel mit den Zeitebenen erfordert etwas Konzentration seitens des Zuschauers und wurde darüber hinaus für ein paar kreative, künstlerische Kniffe genutzt. Die größte positive Überraschung ist für mich die Regie Steiners, die es schafft, all diese unterschiedlichen Zutaten zu einem homogenen Ergebnis zusammenzuführen und eine ganz eigene Atmosphäre ähnlich der eines düsteren Märchens für Erwachsene zu erschaffen, wie sie in diesem Bereich einzigartig, aber auch gewöhnungsbedürftig sein dürfte. Denn „Sennentuntschi“ nutzt das Potential der lokal beschränkten Sage, um den ihr innewohnenden Grusel filmisch gekonnt und spannend umzusetzen, sich dabei diverser Charateristika des phantastischen Films zu bedienen, aber fest in den Alpen verwurzelt zu bleiben, anstatt einen an den Mainstream angepassten 08/15-Horror herunterzurattern. Will sagen: Die Verquickung gemeinhin als idyllisch bis kitschig verstandenen Lokalkolorits mit Mystery und Horror erlaubt einen wenn nicht neuen, so doch mindestens seltenen Blick auf die Alpenregion, ist mutig und verdient Applaus! Unterstützung erhält man dabei von einem außergewöhnlichen Soundtrack, der zeitweise ebenfalls mit Gewohnheiten und Erwartungshaltungen brechen dürfte und mich insbesondere während des Abspanns mit einer eingängigen Hard-/Prog-Rock-Nummer (?) aufhorchen ließ.

Wer möchte, kann in „Sennentutschi“ sicherlich Bezugnahmen auf ein Leben Ausgestoßener auf der Flucht, Einfluss der Kirche, Missbrauch Schutzbefohlener, Hexenjagden etc. entdecken, aber sich – wie ich es empfehlen möchte – auch einfach zurücklehnen und Steiners nicht zuletzt wunderbar sinnlichen Film genießen, der sich kaum um Konventionen schert und für mich eine der Überraschungen des Jahres ist.

Details
Ähnliche Filme