„Ich fick' besser als Gott!“
Während (nicht nur) Deutschland in der ersten Hälfte der 1970er unter einer Welle billiger Sex-„Report“- und Fummelfilmchen ächzte (und der eine oder andere ganz Fertige vielleicht sogar stöhnte), verfilmte der ambitionierte niederländische Regisseur Paul Verhoeven („RoboCop“) im Jahre 1973, noch am Anfang seiner Karriere stehend, einen autobiographischen Roman Jan Wolkers‘ auf Grundlage eines Drehbuchs Gerard Soetemans und nutze die noch jungen Freiheiten in der Darstellung von Nacktheit und Sexualität für ein Liebesdrama in radikaler Bildsprache. „Türkische Früchte“ wurde im Jahre 2000 auf dem Niederländischen Filmfestival zum besten niederländischen Film des Jahrhunderts gekürt. Rutger Hauer und Monqiue van der Ven debütierten hier eindrucksvoll.
„Bleiben Sie manierlich!“
Bildhauer Eric Vonk (Rutger Hauer, „Blade Runner“) erwacht in seiner Wohnung aus Träumen voller Mordfantasien und onaniert wie besessen, um Druck abzubauen. Da er daraus keine Befriedigung erlangt, räumt er sein verwahrlostes Appartement auf und putzt es heraus, um anschließend die Straßen Amsterdams auf der Suche nach willigen Sexualpartnerinnen zu durchstreifen – mit einigem Erfolg. Eric wurde, wie er jetzt ist, aufgrund eines unverarbeiteten Belastungstraumas, das aus seiner unglücklich verlaufenen Beziehung zu Olga Stapels (Monique van de Ven, „Das Mädchen Keetje Tippel“) resultierte. Diese lernte er vor zwei Jahren kennen, als sie per Anhalter reiste. Sofort hatten sie Sex miteinander. Kurz darauf erleidet er mit ihr zusammen einen Autounfall, an dem Olgas spießbürgerliche Mutter (Tonny Huurdeman, „De blanke slavin“) Eric die Schuld gibt. Sie hasst Eric. Doch Olgas und Erics Liebe zueinander ist stärker und aus einer leidenschaftlichen Affäre wird eine intensive Liebesbeziehung, auf die bald die Heirat folgt. Aber das noch junge Glück erweist sich als zerbrechlich und währt nicht lang…
„Schmeck' ich gut?“ – „Nach Austern!“
Mit einer Abfolge mehrerer Morde lockt Verhoeven sein Publikum zunächst auf eine falsche Fährte, denn sie entpuppen sich als visualisierte Fantasiegebilde Erics, der in seiner Schmuddelbude (mit „Barbarella“-Plakat an der Wand) vor sich hinvegetiert – bis er einen Rappel kriegt und beschließt, zum egoistischen Aufreißer zu werden. So bumst er sich durchs Leben, um seinen Trennungsschmerz zu betäuben, bis eine ausgiebige Rückblende seine Beziehungsanbahnung zu Olga und alles, was daraus folgen sollte, zeigt. Gegen alle Widerstände ziehen sie ihre Beziehung durch, und erstmals wohnt den freizügigen Szenen so etwas wie Erotik inne. Die Eheschließung wird relativ spontan vollzogen, Olga und Eric sind sehr glücklich miteinander – und auch ihre Familie muss dies widerwillig akzeptieren. Eine Hochzeitsreise an den Strand wird in ausgesprochen schönen Bildern illustriert. Eric ist zwar frech, aber nicht das Arschloch, als das wir ihn kennengelernt haben. Sie sind ein freizügiges, lebenslustiges paar, dem Leidenschaft und Glück aus jeder Pore spritzen.
„Du sollst mich nicht mehr küssen!“
Daran ändert auch der Tod Olgas Vaters (Wim van den Brink, „Die Rothaarige“) erst einmal nichts. Doch Eric hat auch einen sehr impulsiven Charakter. Auf einer überdrehten, unter einem Rotfilter gefilmten Familienfeier, auf der ein schlüpfriger Flachwitz nach dem anderen gerissen wird, macht Olga plötzlich mit einem anderen Mann herum, woraufhin er quer über den Esstisch und auf ihr Dekolleté kotzt – welch eine Szene! Er verpasst ihr zudem eine Ohrfeige und haut ab, woraufhin sie telefonisch mit ihm Schluss macht. Eric zerlegt seine Bude, sein Schmerz ist spürbar und er beginnt, zu verwahrlosen. Er besucht sie und redet mit ihr. Sie habe einfach Bock auf einen anderen Mann gehabt, sagt sie ihm offen ins Gesicht. Eric vergewaltigt sie, ihre Mutter erwischt ihn dabei und erzwingt den Abbruch.
Der Tonfall des Films hat sich damit entscheidend geändert. Nun wirkt es, als sei ein gewalttätiger Soziopath auf eine promiskuitive Schlampe getroffen und als habe diese Konstellation ohnehin niemals gutgehen können. Für einen Kontrast sorgen schöne Bilder, in denen Eric einen Vogel, den zuvor gefangen und aufgepäppelt hatte, am Meer freilässt – eine Versinnbildlichung seines Loslassens von Olga? Als sie sich zufällig wiedertreffen, scheint sie verrückt geworden zu sein, bricht zusammen und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Nun ist Eric ganz für sie da – als handele es sich zwischen den beiden dann doch um die wahre, große Liebe. Der Tonfall ändert sich erneut; aus der erst bizarren, dann beschwingten und schließlich aggressiven Handlung wird ein todtrauriger Film, der einem ein Happy End vorenthalten wird.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass „Türkische Früchte“ ein inkohärent erscheinendes Filmerlebnis wäre, im Gegenteil: Er deckt anhand eines exemplarischen Extrembeispiels verschiedene Beziehungsphasen ab. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer spießbürgerlichen Moral, die er offensiv angreift und gegen die sich das Paar behaupten muss. Dabei macht er es seinem Publikum nicht immer leicht, denn ein Mindestmaß an Konzentration ist erforderlich, um die Erzählstruktur mit ihren Rückblenden und Zeitsprüngen zu verstehen; die Zeitabstände zwischen seinen Sequenzen werden zudem nur selten näher definiert. Verhoeven vereint hier inhaltliche Einflüsse aus „ Love Story“ mit der Aufbruchsstimmung eines New Hollywood und einem europäischen düsteren Touch. Letzterer nimmt fortwährend zu, nachdem Verhoeven zunächst mit gepfiffener Easy-Listening-Musik manch Szene trotz gewaltvoller Inhalte komödiantisch anmuten ließ.
Auf der visuellen Ebene bietet „Türkische Fürchte“ nicht ganz triviale Kamerafahrten, aber interessanterweise bei Weitem noch nicht die Edel-Optik Verhoevens späterer Filme. Seine Darstellung von Liebe, Lust und Sexualität, aber auch maskuliner Aggressivität wirkt authentisch unbehauen und provoziert mit ihrer Offenheit. Dass sich Erics Gespielinnen ihm zur Triebabfuhr während seiner Kompensationsphase allesamt ohne Weiteres willig hingeben, muss dabei ebenso akzeptiert werden wie Olgas nicht ganz motiviert erscheinende Fremdgeherei, wobei beides im Kontext der Zeit – sexuelle Revolution etc. – betrachtet werden sollte. Alles in allem ist „Türkische Früchte“ ein starker, auf die eine oder andere Weise sicherlich niemanden kaltlassender Film, der hierzulande einen höheren Bekanntheitsgrad verdient hätte.