Achtung, Review enthält Spoiler!
Nicht einmal ganz fünf Jahre dauerte es, bis Warner Bros. auf die Idee kam, dass der düster-beklemmende kleine Independent-Film "Insomnia" (a.k.a. "Todesschlaf") aus Norwegen auch für den US-amerikanischen Markt geeignet sei - zumindest das Grundgerüst der Handlung. Klar, mit Synchronisationen sind die Amis nicht allzu leicht zu begeistern, mit Untertiteln erst recht nicht, und wenn es dann auch noch das große Mainstream-Publikum begeistern soll, sind solch düstere Aussichten, wie sie in Erik Skjoldbjaergs Film zu Tage treten, natürlich auch relativ kontraproduktiv. Ein Projekt also, das bereits von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, setzt man die Qualitäten der Vorlage als Messgröße voraus?
Nun, bedingt, denn immerhin holte man sich auf dessen eigenen Wunsch Christopher Nolan ins Haus, der damals, obwohl er gerade mit "Memento" den wahrscheinlich intelligentesten US-Mainstreamfilm dieses Jahrtausends (bis jetzt) geschaffen hatte, noch ein mehr oder weniger unbeschriebenes Blatt war. Dieser scheint nach seinem Achtungserfolg mit "Memento" prädestiniert dafür, auch diesen für das US-amerikanische Mainstreampublikum tendenziell viel zu düsteren, moralisch ambivalenten Psychothriller auf kommerziell erfolgreiche Weise umzusetzen - und ja, auch wenn an "Insomnia" nicht alles Gold ist, was glänzt, so schafft es Nolan zumindest, einen Film zu schaffen, der seiner Vorlage zwar nicht immer gleichwertig ist, dafür aber in anderen Punkten um so mehr überzeugen kann.
Inhaltlich ist grundsätzlich alles wie gehabt: Aus dem Stockholmer Ermittler Engström, der in das nördlichste Norwegen geschickt wird, um den Mordfall an einem jungen Mädchen aufzuklären, wird in Nolans Film der L.A.P.D.-Detective Will Dormer (Al Pacino), der wie auch im Original zusammen mit einem Partner (Martin Donovan) aus der großen Stadt in den hohen Norden jenseits des Polarkreises entsandt wird (in diesem Fall ein kleines Kaff in Alaska), wo jetzt im Sommer die Sonne nie untergeht und wo die lokale Polizei Unterstützung bei der Aufklärung des Mordes an einem Mädchen braucht. Bald gelingt es, dem Mörder aufzulauern, aber die Aktion geht schief und Dormer erschießt aus Versehen seinen Partner. Der Täter - Kriminalautor Walter Finch (Robin Williams) - hat das mit angesehen und fordert nun einen Deal von Dormer: Er verrät nicht, was geschehen ist und lässt sich so den Tod des Polizisten in die Schuhe schieben, wenn Dormer im Gegenzug seine Kollegen von ihm als dem wahren Mörder ablenkt.
So scheint also abgesehen von der Verlegung der Lokalitäten von Nordeuropa nach Nordamerika alles beim Alten zu sein. Und tatsächlich erstaunt Nolans "Insomnia" insofern, als dass er strukturell wie auch die ausgewählten Motive betreffend eine tiefe Verbeugung vor Skjoldbjaergs Original macht, teilweise Einstellungen eins zu eins übernimmt und generell kaum etwas macht, was der Vorlage nicht gerecht würde. Allerdings begeht Nolan nicht den Fehler, den Skjoldbjaerg macht, indem er seinen Protagonisten durch unpointiertes, beinahe unpassend wirkendes Agieren mit einer Nebenfigur - der Rezeptionistin im Hotel - zu charakterisieren versucht, sondern lässt seinen Detective Dormer von Beginn an in einem psychischen Schwebezustand verharren, der darauf gründet, dass daheim in L.A. eine Untersuchungskommission gegen ihn ermittelt und sein Partner Eckhart ankündigt, gegen ihn aussagen zu wollen. Was letztlich in L.A. passiert ist, erzählt uns Nolan erst gegen Ende des Films, in Dormers letzter Nacht in Alaska und ironischerweise im Gespräch mit dem Nolan-Pendant zur eben erwähnten Hotel-Rezeptionistin, aber dennoch schafft es der US-Film, auf Dormers Situation aufbauend das auszukosten, was Skjoldbjaerg dadurch verpasste, dass er einer eigentlich unnötigen Nebenhandlung zu viel Raum gab: Das Psychospiel zwischen den beiden Männern, die Leute getötet haben - dem Polizisten auf der 'guten' Seite und dem Schriftsteller auf der 'bösen', wie es zunächst aussieht. Doch hier setzt Nolan geschickt an und zeigt uns wie ambivalent diese beiden Begriffe sind, so lässt er seinen Mörder wiederholt sagen, er und Dormer seien ähnlich: Beide haben getötet, ohne es zu wollen, Finch hat im Affekt mehrmals das Mädchen geschlagen bis sie starb, Dormer hat aus Versehen und im Eifer des Gefechts seinen Partner erschossen. Insofern bietet uns Nolan eine erstaunlich schlüssige Argumentation bezüglich der verlaufenden Grenzen zwischen Moral und Unmoral, Gut und Böse, die er sogar noch vertieft. So wirft Dormer Finch vor, dass mehrere Schläge auf den Kopf eines jungen Mädchens kein Unfall seien, sondern Mord, gesteht sich aber im Laufe des Films selber ein, dass er sich unsicher geworden sei, Eckhart nicht vielleicht doch absichtlich erschossen zu haben, wie er im Finale sogar seiner Kollegin Burr (Hilary Swank) gesteht, die im Todesfall Eckharts ermittelt. Insofern wird Pacinos Dormer zu einer vielschichtigeren Figur als Skarsgårds Engström im norwegischen Film - Dormer wirft dem Mörder Mord vor und kann sich aufgrund der eigenen Argumentation nicht mehr sicher sein, ob er nicht selber ein Mörder ist, der seinen Partner erschossen hat, weil dieser vor dem Untersuchungsausschuss gegen ihn aussagen wollte.
Diesen inneren Konflikt Dormers löst Nolan erst ganz am Schluss des Films auf, als dieser sich gegen seinen Erpresser Finch aufbäumt, ihn umbringt und dabei zwar selbst stark verwundert wird, aber zumindest als der moralische Sieger aus dem Psychoduell hervorgeht. Das kann sogar die idealistische, regeltreue Burr anerkennen und so das definitive Beweisstück gegen Dormer unter den Tisch fallen lassen. Nolan bietet uns damit also ein wirklich tiefgehendes psychologisches Spiel, das geschickt mit gängigen und weniger gängigen Vorstellungen von moralischem Handeln hantiert. Damit verfügt er über einen dicken Pluspunkt gegenüber dem norwegischen Original, welches wie bereits erwähnt zu viel Wert darauf legte, seinen Protagonisten durch eine Nebenhandlung zu charakterisieren, die dem eigentlichen Duell zwischen den beiden Hauptcharakteren den Platz wegnahm. Auch mindestens gleichwertig zu Skjoldbjaergs Hauptdarsteller Skarsgård (der seine Sache gut gemacht hat, keine Frage) ist Al Pacino, der den verzweifelten, schlaflosen Detective Dormer von Anfang bis Ende überzeugend herüberzubringen vermag. Des Weiteren erwähnenswert sind die Nebendarsteller Swank und Donovan, die zwar beide nicht über die Maßen gefordert werden, aber soweit grundsolide agieren. Die beste Leistung des Films legt jedoch klar Robin Williams dar, der nicht darauf setzt, Finch als definitiven Bösewicht darzustellen, sondern den Ansprüchen der Handlung folgend einen ganz normalen Menschen darstellt, dem ein Unfall passiert ist - auch, wenn Gegenspieler Dormer das anders sieht.
Insofern macht "Insomnia" einiges besser als seine Vorlage, kann aber dann in widerum anderen Punkten nicht mit dem norwegischen Film mithalten. So hatte letzterer zwar die genannte seltsam unpointierte, aklimatische Struktur, aber dafür trotz seiner Handlung, die nördlich des Polarkreises zu einer Zeit spielt, in der die Sonne niemals untergeht, eine sehr düstere, beklemmende, teils sogar unangenehme Atmosphäre, die einem beim Filmgenuss tief im Halse stecken blieb. Diese Düsternis fehlt dem Remake auf fast der ganzen Strecke, so entsprechen die Bilder eher den Nolan-typischen realen, beinahe naturalistischen Farbgebungen und wirken sich damit zwar auf den Versuch, jegliche Spannung aus den Charakteren heraus aufzubauen förderlich aus, sorgen aber auch dafür, dass das US-Remake atmosphärisch und in Hinblick auf die reine Bildsprache zu keinem Zeitpunkt mit dem Original mithalten kann.
Unter dem Strich ist "Insomnia" also ein Film, der zu hundert Prozent von seinen Charakteren lebt und so auch einiges an Spannung sowie diverse interessante Momente hervorbringt, wenngleich ihm ein bisschen mehr von der Atmosphäre aus Skjoldbjaergs Film gutgetan hätte. Nichtsdestotrotz sind beide Filme gute Filme, beide mit ihren eigenen Stärken und beide mit ihren eigenen Schwächen - und somit auf der reinen Punktzahlebene gleichwertig.
(7/10)