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„Ich sterbe nicht. Euch zum Trotz. Ich sterbe nicht.“

Die Schulzeit – ein Lebensabschnitt, auf den viele gern zurückblicken als eine Zeit der jugendlichen Unbedarftheit, des Abenteuers und des Spaßes, der Ernst des Lebens noch weit entfernt. Für einige jedoch wird diese Zeit schnell zur Hölle auf Erden: Außenseiter, die zu Opfern systematischen Mobbings werden, dem sie nicht aus dem Weg gehen können, da der Terror von der eigenen Klasse ausgeht.

In Zeiten, in denen auch in Europa immer mal wieder Außenseiter an Schulen Amok laufen und schwer bewaffnet scheinbar wahllos mit Papis Gewehren in die Menge feuern, sind anschließend in der Regel alle schwer entsetzt, betroffen und um Erklärungsversuche bemüht. Der estnische Spielfilm „Klass“ aus dem Jahre 2007, anscheinend bis dato das einzige Werk von Regisseur Ilmar Raag greift dieses heikle Thema auf und zeigt anhand dramatisch verlaufender sieben Tage, was sich normalerweise über Monate oder gar Jahre aufstaut und ankündigt.

Joseep (Pärt Uusberg) wurde ungefragt zum Prügelknaben seiner Schulklasse ausgewählt, unter der Rädelsführung sportlicher, tyrannischer Typen wird er systematisch psychisch wie physisch gedemütigt. Die Begründung lautet lapidar, dass er ein „Freak“ wäre; selbst sich viel mehr selbst als „Freak“ gebende Mitschüler stimmen in diese Rechtfertigung mit ein, die einfach unhinterfragter Konsens ist, während Gleichgültigkeit regiert. Während Joseep längst resigniert und sich in seine Rolle eingefügt hat, auf die er bisweilen gar mit zynischem Humor reagiert, bricht Kaspar (Vallo Kirs) hingegen dieses ungeschriebene Gesetz und nimmt sich seines gepeinigten Klassenkameraden an – mit fatalen Folgen.

In komprimierter Form zeigt Raag den unbarmherzigen Vernichtungsfeldzug, dem Joseep und Kaspar ausgeliefert sind, geht dabei auch auf die erschreckenden Rollen der Lehrer und Eltern ein, die die Lage vollkommen verklären, ihr mit Desinteresse begegnen oder durch ihr Verhalten alles nur noch schlimmer machen und zeichnet eine besorgniserregende Gruppendynamik inklusive der Gefahren, der couragierte Mitmenschen ausgesetzt sind, nach, wie sie nicht nur auf den Mikrokosmos einer Schulklasse beschränkt täglich tausendfach stattfindet. Dabei kann er sich auf seine ambitionierten Jungdarsteller 100%ig verlassen, die den Film in seinem semidokumentarischen Stil tragen und fast durchgehend glaubwürdig agieren. Mit dem Einsatz leicht verfremdender Kameratechniken und Filmmusik lässt Raag nie einen Zweifel an der Fiktion seines Films, ohne aber jemals den Realitätsbezug aufzugeben.

Perfiderweise lässt Raag sein Publikum so starke Empathie für Joseep und Kaspar entwickeln, dass dieses nach Art eines Revenge-Movies im erahnbar unausweichlichen Finale mit ihnen während ihres verzweifelten Befreiungsschlag zweier Menschen, die glauben, nichts mehr zu verlieren zu haben, mitfiebern, ja richtiggehend hoffen, die Täter mögen ihre gerecht erscheinende Strafe erhalten. Der Zuschauer wird zum Komplizen eines Amoklaufs gemacht! Das ist starker Tobak, der erst einmal verdaut werden will und sich lange im Gedächtnis festsetzen dürfte. Die mögliche Skandalträchtigkeit wird geschickt umschifft, indem zwar für Verständnis im Sinne einer möglichen Erklärung für derartige Taten geworben wird, ohne auch mit nur einer Silbe selbige zu rechtfertigen. Der Stil des Films verhindert dies, die Bewertung, die ethische Einordnung bleibt dem Zuschauer überlassen. Dramaturgischer Höhepunkt des konsequenten, trotz Vorhersehbarkeit des Ausgangs immens fesselnden Films ist die über den Amoklauf hinausgehende deftige Schlusspointe, die sofort weitere Fragen aufwirft.

Zu guter Letzt habe ich lediglich einen wirklichen Kritikpunkt an dieser durch ihren pessimistischen Realismus mahnenden Sozialstudie: Um Menschen so weit zu bringen wie Joseep und Kaspar braucht es nicht unbedingt physische Vergewaltigungen und Waffengewalt seitens der Täter bzw. späteren Opfer, wie hier im Verlaufe der Zuspitzung der zur völligen Eskalation führenden Ereignisse geschehen– ein Verzicht zugunsten stärkerer Subtilität, der Mut zu mehr Psychoterror, hätte „Klass“ zu einem brillanten Meisterwerk veredelt, evtl. aber etwas von seiner Plakativität eingebüßt, die möglicherweise für einfachere Gemüter zum Verständnis des Films vonnöten ist.

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