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Rassismus auf Kuschelkurs

Basierend auf wahren Begebenheiten versucht das Südstaaten-Drama „Blind Side" die Geschichte des gutherzigen Underdogs aus Armutsverhältnissen zu erzählen, der durch eine gut betuchte Familie zu seinem verdienten Glück findet, verkommt durch eine falsche Positionierung der Erzählperspektive aber zu einem makaberen Paradebeispiel des noch immer weit verbreiteten unterschwelligen Rassismus.

Es ist sicher kein Zufall, dass Lee Daniels schonungsloser Independent-Aufreger „Precious" und das deutlich weichgespültere Sandra Bullock-Vehikel „Blind Side" zur gleichen Zeit in den deutschen Kinos anlaufen. Schon zum US-Release und im Zuge des Oscar-Rennens wurden die beiden Werke von vielen Medien zu direkten Kontrahenten aufgebauscht, da beide die US-amerikanische Rassenthematik verhandeln. Tatsächlich wird nach Ansehen der beiden Filme deutlich, dass sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Wo „Precious" eine radikale, plastisch-überhöhte schwarze Variante des Aufsteigermärchens erzählt, zeigt „Blind Side" eine stereotyp- und idealisierte weiße Sicht der Dinge. Dass Letzterer mit seiner sentimentalen Feel Good-Harmlosigkeit klar der größere Crowdpleaser ist, zeigte bereits das beachtliche Einspielergebnis am Box Office. Durch seinen gefühligen Kuschelkurs verfehlt „Blind Side" jedoch nicht nur die Durchschlagskraft, die „Precious" vorzuweisen hat, sondern schafft damit auch einen Nährboden für die latent rassistische Moral, die sich zunehmend über der sicherlich gut gemeinten Geschichte ausbreitet.

Schuld daran ist vor allem der Protagonist, mit dem das Drehbuch sichtlich wenig anzufangen weiß. Wo in „Precious" die titelgebende Heldin aus eigener Kraft und lediglich mit Hilfestellung Dritter versucht, ihrem Schicksal im Ghetto zu entrinnen, lässt Michael Oher (Quinton Aaron) einfach alles über sich ergehen, was ihm widerfährt, angewiesen auf das Wohlwollen seines Umfelds. Da liegt es in der Hand der reichen, weißen, gütigen Republikaner-Familie Tuohy, insbesondere der sozial engagierten Mutter Leigh Anne (Sandra Bullock), dem stillen farbigen Hünen zur Hilfe zu eilen, ihn bei sich aufzunehmen und nahezu alle Weichen auf dem Weg nach oben für ihn zu stellen. Dieser zeigt sich willig, sämtliche Förder- und Umformmaßnahmen dankbar anzunehmen, um schließlich seine Bestimmung, einen College-Platz durch sein herausragendes Football-Talent, zu erreichen - der Afroamerikaner als Wohltätigkeitsprojekt für die selbstlose weiße Oberschicht.

Eine derart passive Figur mag den wahren Begebenheiten geschuldet sein, doch Regisseur und Autor John Lee Hancock hätte klar sein müssen, dass sie sich kaum als Mittelpunkt eines sanften Hollywood-Spielfilms eignet. Da sich um die Bewegungslosigkeit von Michael Oher kaum eine fesselnde Handlung gestalten lässt und der Zuschauer allenfalls andeutungsweise etwas über seine sozialen Hintergründe erfährt, wird die aktive Seite, also Leigh Anne Tuohy, als Zentrum des Geschehens installiert, was einer aufrichtigen Behandlung der schwarzen Unterschicht zuwider läuft und lediglich uralte Ressentiments erneut unterschwellig aufkocht. Schnell wird aus dem Aufsteigerdrama eine spießige Huldigung christlicher Werte wie Nächstenliebe und Selbstlosigkeit. Dass Leigh Anne sich im letzten Akt mit Selbstzweifeln aufgrund ihrer Beweggründe konfrontiert sieht, ist als Gegenpol zur omnipräsenten Lobpreisung der resoluten Südstaaten-Lady nicht ausreichend.

Zudem torpediert „Blind Side" seine „Based on actual events"-Prämisse permanent selbst, indem er sich stets für den einfachsten Weg entscheidet und zahlreiche Stationen anhand sattsam bekannter und daher unglaubwürdiger Klischees abarbeitet. Lehrbuchartig werden Aufreger wie ein Autounfall, ein Besuch im Ghetto bei Michaels leiblicher Mutter oder obligatorische Sportfilm-Routinen dramaturgisch korrekt platziert und in Windeseile zu aller Zufriedenheit wieder aufgelöst. Dazwischen schwelgt die Kamera in sonnigen Bildern von glücklichem Familienidyll und der Score markiert dezent die besonders rührenden Momente - Bitte jetzt die Taschentücher auspacken.

Nichtsdestotrotz hätte „Blind Side" zweifellos das Potenzial gehabt, ein sehr solider Unterhaltungsfilm zu werden. Das Geschehen ist dramaturgisch ausgewogen, gelungene situationskomische Momente sind in Vielzahl vorhanden, zu kitschige Gefühligkeit wird vermieden. Es ist leicht zu erkennen, was Bullock in der Leigh Anne Tuohy gesehen haben muss, eine ernsthafte und vielschichtige Rolle, die ihr lediglich dezente dramatische Momente abverlangt - denn eine Drama-Darstellerin ist sie nach wie vor nicht -, sondern ihr komödiantisches Talent besonders zur Geltung bringt. Wenn sie rassistische Golfclub-Freundinnen ebenso wie Football-Coaches oder Gangster zur Raison zwingt, läuft sie zur Hochform auf und umschifft in den leisen Momenten mit ihrer differenzierten Darstellung allzu platte Sentimentalitäten äußerst gekonnt.

Es sind aber gerade solche Szenen wie jene mit den versnobten Freundinnen, die trotz Bullocks beachtlicher Performance einen bitteren Beigeschmack haben. Wenn Tuohy tendeziell rassistische Kommentare erbarmungslos abschmettert oder das fast ängstliche Eingeständnis der Nachhilfelehrerin, sie sei Demokratin, mit einem verwunderten Blick der Marke „Und wo ist das Problem?" quittiert, dann hält sich „Blind Side" für wahnsinnig fortschrittlich. Dass Republikaner aber nicht zwangsläufig dem üblichen Klischee entsprechen, ist ebenso selbstverständlich wie die Erkenntnis, dass sozial engagierte Menschen wie Leigh Anne Tuohy absoluten Vorbildcharakter haben. Mehr als diese biederen, fast rückständigen Botschaften hat „Blind Side" leider nicht anzubieten und das ist in diesem Fall einfach zu wenig.

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