Review

Ein Bergwerkarbeiter heiratet eine Frau (damit sind bereits zwanzig Minuten des Films um), die nach ein paar Monaten Eheglücks eines Abends einschläft und Folgendes träumt:

Aufgrund eines dummen Unfalls im Bergwerk wird ihr Ehemann schwer verletzt (ein Trottel lässt seine Tasche mit einem Horn liegen, ein paar spielende Kinder entdecken es und blasen hinein, als grad ein ganzes Stück Felswand weggesprengt werden soll; unser Held geht nachgucken und wird unter den Steinmassen begraben); er erholt sich zwar, sein Gesicht bleibt jedoch völlig (oder zumindest hälftig) zerstört. Die Ärzte fertigen ihm eine hübsche Maske an, dennoch erträgt seine Frau seinen Anblick nicht mehr (pffzz, oberflächliches Miststück). Kommt hinzu, dass er in Depressionen verfällt und sich so erst recht immer mehr von seinem Eheweib entfremdet…

Selbiges bändelt dann mit einem anderen an und lässt sich von diesem überreden, mit ihm fortzugehen. Darauf wartend, dass man sich unbemerkt aus dem Staub machen kann (draussen hängen noch die Nachbarn rum), spielt der Nebenbuhler mit einer Ersatzmaske des betrogen Werdenden und setzt sich diese auf, als grad der Erwähnte früher von der Arbeit nach Hause kommt.
Die beiden Kerle liefern sich einen Faustkampf, unser Bergwerkarbeiter unterliegt schliesslich und verstirbt. Die Frau hilft dem Geliebten, die Leiche heimlich in einem Bergwerkstollen zu beseitigen; zurück im trauten Heim, macht sie dann aber eine böse Entdeckung…


1929 erschienen, war „Dans la nuit“ einer der letzten französischen Stummfilme und erregte mit seinen für damalige Verhältnisse drastischen Darstellungen das Missfallen der Zensoren – auf Veranlassung des Produzenten Fernand Weill wurde der Film zu Abschwächungszwecken zu einer Alles-ist-nur-ein-Traum-Geschichte umgedreht. Dies sicher nicht zur gesteigerten Begeisterung von Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller Charles Vanel, der abgesehen von diesem Streifen einzig den zwanzigminütigen Kurzfilm „Afaire classée“ von 1932 inszenierte – als Schauspieler war der allerdings ganz dicke im Geschäft: Geboren 1892, debütierte er 1908 (nachdem aus der Matrosen-Karriere aufgrund Problemen mit der Sehkraft nichts wurde) auf der Bühne, in den Zehnerjahren wechselte er ins Filmfach und begann eine Karriere, die mehr als siebzig Jahre umfassen sollte und in deren Verlauf er in Klassikern wie „Lohn der Angst“, Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“ oder Jean-Pierre Melvilles „Die Millionen eines Gehetzten“ (mit Jean-Paul Belmondo) auftrat. Bei seinem Tod 1989 soll er in über zweihundert Filmen mitgespielt haben.

Jetzt aber „Dans la nuit“: Für sich selbst genommen, unterhält das Traum-Segment (das man auch den „Thriller-Teil“ nennen könnte) ganz ordentlich. Parallelmontagen wie beim Hergang des Arbeitsunfalls (die Vorbereitung der Sprengung auf der einen, die spielenden Kinder auf der anderen Seite) oder der frühzeitigen Rückkehr des Bergwerkarbeiters nach Hause (während dort die Ehebrecher gezwungenermassen warten müssen) sorgen für ein gerütteltes Mass an Spannung; die Darstellung des eigentlichen Unfalls, bei denen unser Ehemann unter den Steinen begraben (und mehr noch, wie der Verletzte dann wegtransportiert) wird, kommt doch ziemlich dramatisch rüber (wie gesagt, für die Verhältnisse seiner Zeit).
Richtiggehend horribel ist dann die Enthüllung des entstellten Gesichts, genauer gesagt, das langsame Entfernen der Verbände (ein Bild, das sich in unzähligen Genrefilmen bis heute findet; wobei ich bezweifle, ohne mir dessen jetzt sicher zu sein, dass Vanel dies erfunden hat) – wirklich gezeigt wird uns das Gesicht nur in einer sehr kurzen (grösstenteils gar unscharf gefilmten) Einstellung im Spiegel; der Horror des Anblicks spielt sich ansonsten weitgehend im Kopf des Zuschauers ab. Spätestens mit der Maske werden dann die Anleihen an „Das Phantom der Oper“ mehr als deutlich – die berühmte Version mit Lon Chaney lag damals erst vier Jahre zurück. Im Vergleich mit dessen Fratze wirkt das Design hier natürlich sehr zurückgenommen (und sieht dabei stark nach Knetmasse aus), dadurch aber auch realistischer.

Die Thematik um das zerstörte Gesichts und der Reaktion darauf erinnert frappant an den Jahrzehnte später gedrehten "Abre los ojos": hier wie dort kann sich der Protagonist nicht mit seiner Entstellung abfinden (wobei das bei einem Schönling und Frauenhelden wie César noch etwas nachhaltiger trifft als bei einem Bergwerkarbeiter) und verfällt in Depressionen, hier wie dort wendet sich die geliebte Frau ab, sowohl wegen des Anblicks, mit dem sie nicht umgehen kann, als auch wegen der psychologischen Rückzugshaltung des Entstellten.
Es ist also fast schon nachvollziehbar, dass die Ehefrau sich mit einem anderen einlässt, auch wenn sich gleichzeitig der Verdacht der emotionalen Oberflächlichkeit aufdrängt – es ist schon leicht irritierend, wie schnell sie einen Mann aufgrund seines veränderten Aussehens ablehnt, den sie vorher noch innig geliebt hat. Gespielt wird die Frau übrigens von der sowohl hübschen als auch schauspielerisch überzeugenden Russin Sandra („Le fantôme du Moulin-Rouge“, „Les misérables“), die bereits 1957 verstarb.
Im Übrigen werden weder die Ehebrecherin noch der Nebenbuhler negativ dargestellt (der Todschlag passiert ja auch nicht mit Vorsatz, sondern im Eifer des Gefechts), der gehörnte Ehemann aber spätestens in der hübsch fiesen Auflösung eindeutig diabolische Züge bekommt (er ist auch der einzige, Spoiler voraus, der tatsächlich wen umbringt).

Apropos Spoiler: der Schlusstwist ist hübsch fies, allerdings auch recht voraussehbar, als aufgeweckter Filmgegucker fragt man sich schnell mal, weshalb der Nebenbuhler seine Maske nicht absetzt (schlussendlich bleibt einzig verborgen, wann genau der Austausch jetzt stattgefunden hat – was wir dann mit dem Stilmittel der erklärenden Rückblende vermittelt bekommen). Seltsamerweise stellt sich das Eheweib die Frage nicht, ebenso wenig scheinen ihr Unterschiede in Sachen Kleidung oder Statur aufzufallen. Aber okay, man kann sich immer noch damit rausreden, es mit einer Traumhandlung zu tun zu haben.

Kommen wir mal weg vom Traum: Wie bereits in der Inhaltsangabe erwähnt, braucht der Film zwanzig Minuten, bis endlich mal der eigentliche Plot startet. Vanel zeigt uns die Maschinen im Bergwerk, die Vorbereitungen des Ehemanns und natürlich die Hochzeitsfeierlichkeiten in aller Ausführlichkeit – aus dokumentarischen Erwägungen ist das ganz interessant, trotzdem zieht sich das insgesamt schon ziemlich hin und die Gefahr des friedlichen Wegschlummerns muss niedergekämpft werden. Immerhin, interessant ist auch, wie hier eine Atmosphäre des totalen Glücks aufgebaut wird, die dann mit dem Unfall in ihr totales Gegenteil verkehrt wird. Das Happy End am Schluss wirkt dann wieder genau so aufgesetzt, wie es halt ist.
Technisch wird der Übergang zum Traum, resp. die Rückkehr zum Wachzustand übrigens mit einer Bildverzerrung dargestellt, die ganz danach aussieht, als habe jemand Wasser über die Linse der Kamera gegossen. Sieht interessant aus.

Filmtechnisch gibt man sich ansonsten anscheinend Mühe, das Bild immer wieder mal in Bewegung zu halten, um die langen, statischen Aufnahmen aufzulockern, mit kurzen Kamerafahrten oder indem man (allerdings entsprechend verwackelten) von der Pferdekutsche aus filmt (überhaupt wird viel draussen gedreht – was schlicht und einfach auch damit zu tun hat, dass Vanel und Co. sich grosse Studiobauten nicht haben leisten können); kommt eine bewegliche Erzählebene hinzu, mit den erwähnten Parallelmontagen oder Rückblenden.

Auf jeden Fall erwähnenswert ist in der Hinsicht zudem die Gestaltung der Zwischentitel: eine klassiche Texttafel nach dem Muster „weisse Schrift auf schwarzem Hintergrund“ gibt es gerade mal eine einzelne, ansonsten zeigen sich die Zwischentitel immer vor bewegtem Hintergrund, teils ist gar die Schrift selbst bewegt. Die Dialoge werden zum grössten Teil wie eine Art Untertitel direkt ins Bild eingepasst, eine wunderbare Methode, die im Stummfilm leider viel zu selten eingesetzt wird (gut, das Problem ist dann halt der Verleih in andere Länder; normale Zwischentitel lassen sich leichter in verschiedenen Sprachfassungen austauschen).

Gesehen hab ich die TV-Version von Arte (mit diesen nicht wirklich schönen, aber halt gut zu lesenden gelben deutschen Untertiteln). Die grandiose musikalische Vertonung dieser Fassung ist beunruhigend bis traumartig, manchmal geradezu hypnotisierend. Aufgenommen wurde sie 2000 von einer fünfköpfigen Gruppe um den nicht ganz unbekannten Jazzmusiker Louis Sclavis.


Fazit: Eine Kürzung des Anfangs und eine stärkere Konzentration auf die „Thrillerhandlung“ wäre mir ganz recht gewesen, das Happy End wirkt sehr aufgesetzt. Aber das Traum-Segment, für sich genommen, kann weitgehend überzeugen (wie gesagt, der Twist beispielsweise ist nicht ganz lupenrein) und insbesondere die technische Gestaltung der Dialoge und Zwischentitel ist einen Blick wert.

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