Review

Generell kann man "66/67" als Drama über das Erwachsenwerden begreifen, als Abschied vom ungezwungenen Ausleben eigener Bedürfnisse hin zur Verantwortung eines Berufs- und Familienlebens. Enger gefasst, beschreibt "66/67" die deutsche Gegenwart in ihrer wenig schillernden Realität einer mittelgroßen Stadt, geprägt von Sozialbauten, Wochend -Tristesse, Harz 4 und Patchwork-Familien.

Beide Interpretationen sind nicht von der Hand zu weisen, aber "66/67" ist zuerst ein Film über Fussball, auch wenn keine einzige Spielszene darin zu sehen ist und die Protagonisten auch nur einmal im Stadion vor Ort zu sehen sind. Den Film auf die obengenannten Aspekte zu reduzieren, wäre zudem eine Missachtung gegenüber der vom Team "Ludwig & Glaser" entwickelten Story, die durch ihre sehr genauen Beobachtungen überzeugen kann. Erst durch die Verzahnung mit der ganz spezifischen, so nur beim Fussball vorstellbaren, Konstellation einer Männergruppe, bekommen diese Themen eine Komplexität, die weit über übliche Betrachtungen dieser Problematik hinausgehen.

Schon der Titel "66/67" verdeutlicht das in überzeugender Weise (weshalb man den idiotischen und völlig unpassenden Zusatzsatz "Fairness war gestern" gleich vergessen sollte). Die Jahreszahl bezieht sich auf die Bundesligasaison, in der Eintracht Braunschweig deutscher Fussballmeister wurde - das bisher einzige Mal. Inzwischen ist die Mannschaft in den Niederungen des deutschen Fussballs angekommen und kämpft an dem Tag, an dem der Film beginnt, um die Qualifikation für die 3.Liga. "Ludwig & Glaser" hätten auch andere Mannschaften - wie etwa den an diesem Tag direkten Kontrahenten "Rot-Weiß Essen" - auswählen können, auf die ähnliche Spezifika zuträfen, aber Eintracht Braunschweig vereint geradezu idealtypisch unterschiedliche Eigenschaften.

Abgesehen davon, dass die Eintracht aus diesem Duell als Sieger hervorging, was für die abschließende Szene von Bedeutung ist, ist der Verein für seine treue Anhängerschaft bekannt, die nach wie vor, trotz der sportlichen Misserfolge, zahlreich ins Stadion pilgert. Auch bei Fans gegnerischer Vereine erfährt die Mannschaft deshalb Sympathien, ganz im Gegensatz zu Hannover 96 und VFL Wolfsburg aus der Nachbarschaft, die beide in der 1.Bundesliga spielen. Nicht von ungefähr spielt diese Konkurrenz in zwei Szenen eine wesentliche Rolle, als die sechs Freunde ausgerechnet in ihrer Lieblingskneipe "66/67" Fans des VFL Wolfsburg vor dem Fernseher antreffen und entsprechend Randale machen, oder als sie zum Spiel von Hannover 96 fahren wollen. Keineswegs als Anhänger, sondern zur Unterstützung bei Fangefechten, weshalb die überraschende Absage zu einer unkontrollierten Aggression gegenüber Unbeteiligten führt.

Auch die Wahl der Stadt an sich passt in dieses Gesamtbild, da Braunschweig - trotz Universität und schöner Altstadt - einen unscheinbareren Eindruck hinterlässt als die Landeshauptstadt Hannover und die VW-Stadt Wolfsburg. Diese Aspekte sind von wesentlicher Bedeutung, denn sie vermitteln ein Underdog-Feeling, dass die unterschiedlichsten Charaktere zusammen schweisst. Es gibt viele Formen von Interessen, die Menschen jehrzehntelang gemeinsam ausüben, aber dieses, üblicherweise auf das männliche Geschlecht beschränkte, klassenübergreifende Zusammengehörigkeitsgefühl, dass sich vor allem über eine gemeinsame Begeisterung definiert, ist nur schwer in einem anderen Zusammenhang vorstellbar.

Ihre Gruppe war früher einmal viel größer, was erkennbar wird, als Otto (Christoph Bach) ein weiteres Mitglied auf einem alten Foto übermalt. Kurz zuvor hatte er, gemeinsam mit Florian (Fabian Hinrichs), dieses in der Metzgerei, wo er jetzt angestellt ist, besucht. Ihre Vorgehensweise war kein Freundschaftsbesuch, sondern eine aggressive Aufforderung an den ehemaligen Kameraden, sich wieder einzugliedern. Dessen Weigerung führt beinahe zum Eklat, aber letztlich akzeptieren die sechs Übriggebliebenen den Austritt des Abtrünnigen, für den sie nur Verachtung empfinden.

Auch wenn dieser davon sprach, sich endlich um seine Familie kümmern zu wollen, wird deutlich, dass dieses Auseinanderleben nichts mit dem üblichen Übergang von der Ausbildung ins Erwachsenenleben zu tun hat. Die sechs Protagonisten sind inzwischen alle um die 30 und fast alle haben längst eine bürgerliche Existenz. Einzig Florian, der heimliche Anführer der Gruppe, kann sich nicht entscheiden, sein Studium zu beenden und einen Job in der Firma seines Vaters anzunehmen. Er profitiert dabei von ausreichender finanzieller Unterstützung, während Tamer (Fahri Ogün Yardim) die Kneipe seines kranken Vaters führt, Henning (Maxiom Mehmet) ironischerweise Polizist ist, und Christian (Christian Ahlers) beim Wachschutz arbeitet, der auch für das Stadion zuständig ist. Einzig Otto ist arbeitslos und lebt von Harz 4.

Die Beweggründe der einzelnen Beteiligten werden vom Film unterschiedlich intensiv betrachtet. Florian, der privilegierte Sohn aus wohlhabendem Elternhaus, hat eine heimliche Beziehung zu Özlem (Melika Foroutan), der hübschen Schwester seines Freundes Tamer, die in Berlin als Schauspielerin arbeitet. Auch das Verhältnis zu seinem Vater, selbst alter Eintracht-Fan, ist sehr gut, weshalb sein bedingungsloses Festhalten an der alten Kameradschaft und seine - angesichts seiner sonstigen Intelligenz - frappierende Unfähigkeit, Emotionen gegenüber Özlem auszudrücken, besonders aussagekräftig ist. Ottos verdrängte Homosexualität spricht zwar ein gerade in diesem Umfeld kontroverses Thema an, fällt aber storytechnisch, in seiner Umsetzung in extreme Aggressivität, etwas zu klischeehaft aus.

Die anderen Freunde bleiben eher oberflächlich, außer Christian als Brille tragender, dicklicher Mitläufer, der den entscheidenden Aspekt vermittelt. In einer frühen Szene in einer Discothek wird deutlich, dass ihre Gruppierung weit mehr als Freundschaft ist, sondern wie eine Ersatz-Familie funktioniert. Als Christian von einem Typen verbal angegriffen wird, greift sofort Henning ein. Unmittelbar verändern sich die Machtpositionen zugunsten Christians, worin erkennbar wird, dass eine solche Konstellation sehr genaue Abhängigkeiten entwickelt. Das spitzt sich zu, als Christian, der sein Leben genau bis ins hohe Alter geplant hat, seiner Freundin einen Heiratsantrag macht - logischerweise im vollen Fussballstadion. Das sie ablehnen würde, wird jeden Betrachter einer früheren Szene nicht überrascht haben, aber dadurch kommen die Mechanismen der Gruppe in Gang, die letztlich in eine Katastrophe führen.

Wer "66/67" einfach als Drama über eine Gruppe junger Männer begreift, die sich nicht von ihrer Jugend lösen können, hat den Film nicht begriffen und verkennt auch, dass unzählige Menschen bis ins hohe Alter diesem Zusammensein fröhnen. Im Gegenteil gelingt es "Ludwig & Glaser" sehr gut, die Qualitäten dieser Konstellation zu vermitteln und die Sicherheit, die dieser Zusammenhalt bietet. Aber der Film verharmlost auch nicht die Auswirkungen, die sich in der mangelnden Bereitschaft zur Veränderung und im Verlust der Selbsteinschätzung zeigen.

Letztlich ist auch die Fangruppe nichts anderes, als eine Reaktion auf die deutsche Gegenwart und der Film verdeutlicht auf überzeugende Weise, dass die Erfüllung äußerlicher Parameter - wie sie gerne mit Beruf, Familie und materieller Sicherheit propagiert werden - keine Garantie auf ein glückliches Leben beinhalten. Glück kann auch die Nachricht bedeuten, dass Eintracht Braunschweig doch den Abstieg vermieden hat, auch wenn es nur ein winziger Moment ist (8,5/10).

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