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Wäre der Filmhistoriker Jerzy Toeplitz noch am Leben, dann würde er Rick Minnichs Dokumentarfilm „Forgetting Dad“ nicht mit den bekannten Worten „Das Leben selbst, auf frischer Tat ertappt […]“, sondern mit „Das Leben selbst, eine spannende Spurensuche“ kommentieren.

Die Spurensuche von Rick Minnich nach seinem Vater, der nach einem harmlosen Autounfall scheinbar sein Gedächtnis verlor. Einem Vater, der sich nach der Diagnose Amnesie nur noch „New Richard“ nennt und ein neues Leben weit weg von seiner früheren Familie beginnt. Achtzehn Jahre später ist Richard noch immer der neue und nicht der alte Richard, keine Erinnerungen an seine alte Existenz sind zurückgekehrt. Doch nicht nur 45 Jahre sind aus seinem Gedächtnis angeblich verschwunden, auch der Kontakt zu alten Freunden und Bekannten bricht ab. Für den Filmemacher und ältesten Sohn von Richard beginnen damit der Zweifel und die ständige Frage, ob
sich sein Vater wirklich nicht erinnern kann.

Doch während der Vater keinen Schritt mehr in Richtung Vergangenheit wagt, startet der Sohn und Dokumentarfilmer eine Zeitreise, auf der er alte Erinnerungen und Geschichten einholt, mit der Hoffnung, endlich eine Antwort zu finden.

Rick Minnich, der in Berlin an der HFF „Konrad Wolf“ Regie studierte, begibt sich in seinem vierten weltweit veröffentlichten Dokumentarfilm wieder auf Heimreise. Persönliche Rückblenden, Erinnerungen und die Auseinandersetzung mit seinem Heimatland USA bieten dem 42-Jährigen immer wieder Stoff für seine komplexen und vielschichtigen Filme. So zeugen die Suche nach dem vollkommenen Amerika in „Heaven on Earth“, die Erlebnisse in der Region Kansas in „Homemade Hillbilly Jam“ oder auch die persönlichen Erinnerungen an seine Schulzeit in „Good Guys & Bad Guys“ von der Verbundenheit Rick Minnichs mit seiner Heimat.

Minnich lehnt sich bei seiner komplexen Geschichte „Foregtting Dad“ an die Erzählmuster eines Krimis, die Aufdeckung einer vielschichtigen Lebensgeschichte, die er durch Interviews, alten 8mm-Aufnahmen und mit Hilfe von Standbildern beschwört. Somit offenbart er die dunkle Seite von Richard, der nach Aussagen ehemaliger Arbeitskollegen in einem Bankenbetrugsskandal verwickelt war, seine Kinder schlug und bereits eine Familie zurück ließ. Schließlich scheint am Ende der tragischen Fall und das Geheimnis von Richard anhand eines psychologischen Gutachtens gelöst. Doch wie im Noir-Krimi bleibt auch nach der Aufklärung die Welt nicht Ordnung.

„Forgetting Dad“ ist neben der spannenden Enthüllungsstory vor allem eine tragische Familiengeschichte. Verbunden mit dem gleichem Schicksal, gewähren einzelne Familienmitglieder tiefe und emotionale Einblicke in ihre Gefühlswelt. Weniger als Beobachter geriet auch Minnich als Betroffener vor die Kamera. So nah, dass der Anschein entsteht, er verliere die objektive Perspektive und damit die Funktion des Dokumentfilmers. Doch auch wenn die dokumentarischen Erzählperspektiven wie Nähe-Distanz-Relationen teilweise ins Wanken geraten, bestimmt vor allem die Authentizität der Bilder das Geschehen. Demnach konstruiert Minnich in seiner Rolle als Regisseur und Sohn den Blick auf die Wirklichkeit, als organisatorische Kraft mit dem Gespür für das Geschehene. Der Zuschauer wird zum Beobachter einer doppelten Identitätsfindung. So sucht Minnich in der Vergangenheit nach einer Lösung, die ihn das Geschehene akzeptieren lässt. Umgekehrt stagniert Richard in der Gegenwart, losgelöst von der Vergangenheit, auf der Suche nach Identität.

Dieser Film fesselt! Eine unglaubliche Geschichte die tief berührt und nachhaltig im Kopf bleibt. In einer Zeit, in der Dokumentarfilme wie „Bowling for Columbine“ oder „Deep Blue“ polemisch und in Hochglanz-Format daherkommen, beweist „Forgetting Dad“ die edlen Qualitäten eines Dokumentarfilms. Aufrecht und natürlich gelangt diesem Film ohne Zugespitztheit ein wahrhaftiges Schicksalsbild.

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