Antonionis zweiter Spielfilm "I Vinti" ("Die Besiegten") behielt in seinem Gesamtwerk einen Ausnahmestatus, weshalb der Film - im Gegensatz zu dem früheren "Chronik einer Liebe" - als wenig beispielgebend für seinen Stil gilt. Betrachtet man die frühen Dokumentarfilme, die zusätzlich noch eine Nähe zum italienischen "Neorealismus" aufwiesen, fallen Parallelen zu "I Vinti" auf, der aus heutiger Sicht wie das gestalterische Verbindungsglied zwischen seinen frühen Dokumentarfilmen und den späteren Spielfilmen wirkt.
Schon die äußere Form, die in "I Vinti" in drei von einander unabhängige jeweils ca. 35minütige Geschichten teilt, die in verschiedenen Ländern spielen und von Antonioni konsequenterweise in der jeweiligen Landessprache umgesetzt wurden, weist darauf hin. Eingeleitet werden sie mit dokumentarischem Material, bestehend aus Wochenschau-Ausschnitten, Zeitungsartikeln und Fotos, zu dem aus dem Off die aktuellen Probleme mit den Jugendlichen vermittelt werden, die als Folge des Weltkrieges Halt und Moral verloren haben und sich zunehmend der Kriminalität und Promiskuität hingeben.
Die drei beispielhaften Geschichten orientierten sich an wahren Kriminalfällen, was aber letztlich für Antonionis Intention keine Rolle spielte, da für ihn der selbe Ursprung in diesen wie auch unzähligen weiteren Fällen lag und er besonders die Sinnlosigkeit betonen wollte, die dahinter verborgen war. Die moralisierende Einleitung des damals knapp 40jährigen mit ihren vertrauten Argumenten gegen die verwahrloste Jugend, wirkt aus heutiger Sicht altmodisch und wenig tolerant, bedenkt man, dass die Argumente gegenüber der folgenden Generation Anfang der 70er Jahre nicht viel anders klangen.
In diesem Zusammenhang muss man sich die Umstände und den Zeitkontext vor Augen führen, um sein Plädoyer richtig einzuordnen. Antonioni war einer der Ersten, der sich auf diese Weise mit der Nachkriegsjugend auseinandersetzte, und diverse Quellen weisen darauf hin, dass er ursprünglich noch wesentlich konkreter auf die gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit eingehen wollte. Frankreich nahm Einfluss auf die französische Episode, um letztlich den Film trotzdem zu verbieten, und die italienische Förderung untersagte eine Geschichte, die auch Elemente der eigenen faschistischen Vergangenheit beinhaltete, in der Antonioni eine der Hauptursachen für die fehlende Orientierung der Jugend sah. Der anfängliche Text war sicher auch eine Konzessionsentscheidung, wie auch die abschließenden warnenden Worte, aber er entsprach in seiner Ernsthaftigkeit durchaus Antonionis Intentionen.
Eine Ernsthaftigkeit, die stilbildend für seine Werke bleiben sollte, weshalb „I Vinti“ trotz des noch vorhandenen dokumentarischen Anstrichs auch als Gesamtfilm funktioniert. Die Anordnung der drei Episoden ist keineswegs zufällig und beschreibt eine erzählerische Linie, die sich bis zum Ende hin steigert:
I. Frankreich :
Der Beginn wirkt noch spielerisch und entspricht den bis heute gewohnten Bildern einer Jugend, die versucht sich von ihren Eltern abzunabeln. Diese haben zwar noch eine gewisse Kontrolle, aber sie entgleitet ihnen zunehmend. In verschiedenen Szenen zeigt Antonioni den Umgang zwischen Eltern und Kindern und deren geschickte Art sich Freiräume zu schaffen. Sie treffen sich gemeinsam, um aus Paris heraus zu fahren. Vordergründig wollen sie in Varennes ein Schloss besichtigen, aber in Wirklichkeit verfolgen sie einen perfiden Plan.
Unter ihnen befindet sich Pierre, ein Sohn aus einem wohlhabenden Künstlerhaus. Interessant ist der Dialog zwischen Pierre und seinem Vater, der nichts gegen den Ausflug hat (obwohl er dessen fehlerhafte Argumentation sofort durchschaut) und seinen Sohn regelrecht wegschickt, weil er an diesem Tag ein Konzert gibt und ihn nicht dabei haben will. Der Grund liegt keineswegs in Gleichgültigkeit oder Ablehnung, sondern in dem Wissen, dass sich der Sohn nicht mehr für seine Musik interessiert. Hier beschreibt Antonioni den damals beginnenden Prozess der Entfremdung zwischen den Generationen, der sich in einem völlig unterschiedlichen kulturellen Geschmack zeigte.
Pierre erhofft sich bei dem Ausflug eine Annäherung an Simone (Etchika Choureau), die ihn bisher immer missachtete, ihm aber diesmal - obwohl ihr Freund dabei ist - schöne Augen macht. Er weiss nicht, dass sie gemeinsam mit ihrem Freund und dessen Bruder einen genauen Plan verfolgt. Die Brüder hatten heimlich ihrem Vater dessen Revolver entwendet und haben es auf Pierre, der gerne mit seinen finanziellen Möglichkeiten angibt, abgesehen. Simone soll für das Alibi sorgen, indem sie Pierre einen Abschiedsbrief entlockt, der sein Verschwinden erklären soll. Und Simone setzt dafür ihren gesamten weiblichen Charme ein...
Trotz des ernsthaften Hintergrunds behält die französische Episode lange Zeit ihre Leichtigkeit in der Erzählung aufrecht. Nur langsam erhält der Plan feste Umrisse und die Umsetzung kommt fast überraschend und entsprechend unprofessionell. Antonioni erreicht diese Wirkung auch durch die nötige Distanz, die er zum Geschehen beibehält, und die keine tragische Komponente aufkommen lässt. Die Liebeleien, die Träume für die Zukunft und die psychologischen Erklärungen der Beteiligten wirken kindlich und unreif. Um so sinnloser bleibt der plötzliche Gewaltausbruch, der sich durch keine echten Emotionen ankündigt und dessen Auswirkungen, die Antonioni nicht abschliessend verdeutlicht, letztlich ohne nennenswerten Widerstand hingenommen werden.
Das Bild, mit dem Antonioni den ersten Teil beendet, bleibt in Erinnerung. Denn der Vater, der seinen Sohn zur Polizei bringt, hat ihn (und dessen Bruder) noch unter Kontrolle. Eine Kontrolle, die in den zwei weiteren Teilen nicht mehr existiert.
II. Italien :
Als die Eltern von Claudio (Franco Interlenghi) mitten in der Nacht in ihrer mondänen römischen Stadtvilla erwachen, stellen sie fest, dass er nicht in seinem Zimmer ist. Sie versuchen Hinweise für seine Abwesenheit zu finden, müssen aber erkennen, dass sie nur wenig über ihren Sohn und dessen Freunde wissen. Claudio befindet sich zeitgleich am Fluss, wo er gemeinsam mit Anderen Schmuggelware von einem Schiff lädt. Doch diesmal kommt ihnen die Polizei dazwischen und Claudio muss fliehen. Als er über eine schmale Brücke vor den Polizisten davon rennt, begegnet er einem Matrosen, der ihn nicht durchlassen will - in Panik erschiesst er diesen und kann entkommen. Allerdings fällt er bei seinem Fluchtweg, der ihn über Baustellen führt, in eine Öffnung und bleibt verletzt liegen.
Antonioni zeigt hier schon Bilder, wie er sie später noch prägnanter in "La Notte" verwenden wird. Nachdem Claudio sich wieder aufgerappelt hat, irrt er lange Zeit durch ein Rom, dass ausschliesslich von Bauten der Moderne, die sich hier grösstenteils im Bau befinden, geprägt wird. In beeindruckend schönen Bildern weitet er die Räume und verdeutlicht damit die Verlorenheit und Ziellosigkeit Claudios. Bis dieser zu seiner Freundin kommt, die schon lange auf ihn gewartet hat, und entsprechend ungehalten ist. Ihr erzählt er, was ihm widerfahren ist und das er - der Sohn aus reichem Hause - ihr beweisen wollte, dass er allein für sich sorgen kann.
Nicht zufällig erinnert die zweite italienische Episode am stärksten an Antonionis ästhetischen Stil. Nicht nur, dass die Szenerie - typisch für den späteren Antonioni - unter wohlhabenden Menschen spielt, auch die Sprachlosigkeit und Einsamkeit wird hier deutlich mehr betont als in der ersten Episode, die in ihrer Erzählstruktur konventioneller blieb. Die Sinnlosigkeit verdeutlicht sich nicht nur in den Taten, für die es keinerlei materielle Notwendigkeit gab, sondern auch in dem vergeblichen Versuch, daran etwas zu ändern. Claudios Freundin nimmt sich seiner ernsthaft an und versucht ihm zu helfen, indem sie ihn zu einem Arzt bringen will, aber er entzieht sich ihr bei der ersten Gelegenheit und kehrt nach Hause zurück.
Die Polizei, die von den Eltern um Mithilfe bei der Suche gebeten wurde, hatte inzwischen erkannt, dass deren Sohn der nächliche Täter war, bemerkt dessen Rückkehr ins Elternhaus und spricht bei seinem Vater vor. Während dieser seinen Sohn verflucht, entdeckt die Mutter ihn tot auf seinem Bett liegend. Ob Claudio seinen Verletzungen erlegen ist, an Erschöpfung gestorben ist oder vielleicht Selbstmord begang, lässt Antonioni offen. Unabhängig davon wird deutlich, dass es aus dem sinnlosen Teufelskreis keinen Ausweg mehr gibt und auch die Eltern nicht mehr helfen können, was Antonioni mit dem Tod im Kinderbett ironisierend betont. Ganz offensichtlich zieht er die Schraube der Konsequenz weiter an und bereitet damit die dritte und letzte Episode vor.
III. England :
Der Film beginnt mit einem Anruf bei dem Londoner Reporter Ken Whorton (Patrick Barr), dem eine Sensation angeboten wird. Der Anrufer hatte eine Frauenleiche entdeckt, deren Fundort er dem Reporter unter der Bedingung verraten will, dass er selbst den Bericht dazu schreiben darf. Whorton lässt sich darauf ein und lernt so den jungen Mann Aubrey (Peter Reynolds) kennen, der auf ihn einen leicht verwirrten Eindruck macht.
Aubrey wirkt wenig gefestigt, zeigt zwar als Kleinstädter Respekt vor den Menschenmassen in London, setzt aber unmittelbar darauf bei einem Windhundrennen sein gesamtes Honorar. Auch sein Selbstbewusstsein schwankt zwischen grosser Einbildung, sich selbst als begabten Poeten anzusehen, und Unsicherheit, die sich in seinem ungeschickten Werben um eine junge Frau zeigt, die ihn nur verabscheut. Als ihm bewusst wird, dass sein Zeitungsbericht nur wenig Eindruck bei ihr hinterlässt, will er sein Geständnis, selbst den Mord begangen zu haben, an die Zeitung verkaufen, aber die Polizei hat ihn schon überführt und verhaftet ihn.
Die abschliessende Gerichtsszene steht stellvertretend für den gesamten Film, denn hier trägt Antonioni noch einmal die verschiedenen Positionen zusammen. Während der Staatsanwalt in seinem Plädoyer die höchste Strafe beantragt, ist Aubrey nicht in der Lage, eine Schuld in seinem Handeln zu erkennen. Antonioni zeichnet einen Zustand der völligen Verwirrung, den er noch damit betont, dass er ein einziges Mal die Distanz in seiner Sicht verlässt.
In einem Rückblick führt er Täter und Opfer zusammen und zeigt den sinnlosen Mord an einer Frau mittleren Alters, die sich gegenüber Aubrey im Versuch, kurz ihre Einsamkeit zu vergessen, ungeschickt prostituiert. Der Moment, als Aubrey die leicht frierende Frau mit seinem Mantel zudeckt, ist der Intimste des gesamten Films und seine unmittelbare Zerstörung vermittelt die Tragik der Sinnlosigkeit in seiner unmittelbarsten Form.
Als Whorton den Gerichtssaal verlässt, ist er erschüttert über das gerade gehörte Todesurteil, was er in einem verächtlichen Satz gegenüber der gaffenden Menge herauslässt, bevor er wieder mit seinem Arbeitsalltag konfrontiert wird. Diese Haltung kann stellvertretend für Antonionis Meinung angesehen werden, der hier ein komplexes Bild gegenseitiger Abhängigkeiten entwirft, der er die Schuld für die Situation der "verlorenen" jungen Generation gibt, die ihre Kindheit während des Weltkrieges verbrachte. Von Episode zu Episode steigert er den Grad der Sinnlosigkeit der Taten, aber auch den der Bestrafungen, die keine Lösungsansätze bieten.
Abschliessend sei die Frage gestellt, warum "I Vinti" in der Gesamtbetrachtung seines Werkes so wenig beachtet wird ?
Sicherlich war Antonioni thematisch seiner Zeit voraus, indem er zwar die Jugendkriminalität anprangerte, aber weder in härteren Strafen eine Lösung sah, noch die ältere Generation aus ihrer Verantwortung lassen wollte. Gleichzeitig wollte er seinen Film auch als Warnung für die Jugend wissen, der er mit seinen beispielhaften Geschichten die möglichen Konsequenzen aufzeigte. Dieser inhaltliche Ansatz musste scheitern, da er keiner gesellschaftlichen Meinung entsprach. Die Einen waren beleidigt, dass er einen solchen Blick auf ihre Jugendlichen warf ( was zum französischen Verbot führte), Anderen war der pädagogische Ansatz zu wenig konsequent und die Jugendlichen konnte er mit seinem belehrenden Gestus auch nur schlecht erreichen.
Filmästhetisch trug die Formsprache mit den drei Episoden und der dokumentarischen Einleitung dazu bei, den Gesamtaufbau zu verkennen, und "I Vinti" nur nach der Qualität der einzelnen Episoden zu beurteilen. Diese wirken durch die - gemessen am Geschehen - knappe Laufzeit und die professionellen Darsteller teilweise überinszeniert - die französische Episode lässt sich mit den vielen handelnden Personen kaum Zeit für Charakterisierungen, die römische Geschichte wird durch eine optisch sehr schön inszenierte Flucht geprägt, wirft auch einen genaueren Blick auf den jungen Mann, bleibt aber oberflächlich hinsichtlich der Beziehung zu Eltern und Freundin, während die englische Episode mit nur zwei Protagonisten am dichtesten gestaltet ist und die Tragik am stärksten vermitteln kann.
Doch die Auseinanderdividierung der drei Teile ist falsch, denn tatsächlich gelang Antonioni mit diesem inszenatorischen Trick erst die nötige Komplexität in seiner Betrachtungsweise. Durch die sprachliche Vielfalt und die authentischen Orte nahm er der Thematik - trotz der teilweise dramatischen Ereignisse - den direkten Bezug und schuf die nötige Distanz und die damit gewollte Verallgemeinerung. Gleichzeitig verbarg er darin eine sich steigernde Tragik, die sich dem Betrachter zum Schluss so direkt erschliesst, dass an der Ernsthaftigkeit des hier dargestellten Problems kein Zweifel bleibt. (8,5/10).