Review

"Es muss eine Art Rebellion geben zwischen denen, die nichts haben, und denen, die alles haben!"

Michael Moore ("Bowling for Columbine", "Sicko") thematisiert in "Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte" die im Jahre 2007 entstandene Finanzkrise und ihre Folgen auf die Mittelschicht. Er beginnt seinen Film mit einem Exkurs ins alte Rom und zieht Vergleiche zur amerikanischen Gegenwart. Darauf folgend präsentiert Moore haarsträubende Situationen, wobei ganze Personenkreise ihr Heim verlieren, Wohnungen zwangsgeräumt werden, angesehene Berufsgruppen unter Mittellosigkeit leiden und Angestellte für Firmen, durch abgeschlossene Lebensversicherungen, tot einen höheren Stellenwert erreichen, als lebendig.

Michael Moore's Filme und Ansichten sind bekanntermaßen mit nur wenigen Worten zu beschreiben: aufwühlend, bissig, unterhaltsam und gnadenlos polemisch. Der dokumentarische Sinn hinter Moore's Filmen stand häufig unter der Kritik zu einseitig und manipulativ zu sein. Diese Schwäche gehört allerdings auch zu den Stärken seiner Werke, denn niemand sonst zeigt so unverhohlen und direkt die Gesichter von gescheiterten Personen, die den Abstieg ihrer gesellschaftlichen und sozialen Ebene durchleben.
"Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte" spielt mit den Emotionen. Moore geht zu den Menschen, die ihre Häuser verlieren und fängt ihre Verzweiflung ein. Das ist wie immer seine große Stärke, den abstrakten Nachrichten und Statistiken, die uns schon lange abgestumpft haben, ein Gesicht zu geben. Wer die Fassungslosigkeit dieser hart arbeitenden Mittelschichtfamilien gesehen hat, die nach Jahrzehnten ihr Haus verlassen muss, den werden Stichworte wie Hypotheken, Zinsen und Zwangsversteigerungen nicht mehr kalt lassen.

Kapitalismus ist böse, so der Grundsatz der bissigen Dokumentation. Immense Verschuldungen durch aufgenommene Kredite sorgen bei Studenten für immerwährenden Arbeitsdrang. Massiver Abbau von Arbeitsstellen für eine nur kurzlebige Finanzspritze der Firmen, für den Arbeitenden das KO. Dies sind bekannte Sätze, die Moore nochmals ausgiebig behandelt. Moore liefert aber auch Geschichten, die weniger an die Öffentlichkeit gerieten. Etwa die Gewinnmaximierung eines privat geleiteten Jugendgefängnisses, dass bestochene Richter zu härteren Urteilen motiviert.

Das Böse braucht wie so oft ein Gesicht. Moore liefert gleich mehrere. Am Pranger hängen neben namhaften Politikern und Abgeordneten ganze Vorstände von Banken und Börsenmaklern, die über Jahre die Mechanismen des Finanzwesens ausgenutzt, sich ungeniert beim Volk bedient haben und sich selbst in die Taschen wirtschafteten. Final bezeichnet Moore die Banken selbst als Verbrecher und fordert sie auf, ihr erwirtschaftetes Geld dem amerikanischen Volk zur Verfügung zu stellen. Dabei schreckt er nicht vor augenzwinkernden Methoden, wie einem angedeuteten Bankraub, zurück.

Im Kern der Sache muss man zwangsweise zu dem Schluss kommen, dass in den USA die Reichen das Sagen haben und dem Rest der Bevölkerung als letzte Möglichkeit der Einflussnahme nur noch das Stimmrecht geblieben ist. Dieses Stimmrecht ist schließlich der Wendepunkt in der Realität wie auch in "Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte". Die Ablösung der Bush-Regierung durch die Demokraten brachte eine politische Restrukturierung, die näher am Volk arbeitet und von diesem sichtbar offener aufgenommen wird. So enthält diese Dokumentation die bislang positivste Aussicht von Moore's Werken.

Die Wirtschaftslage der USA scheint auf den ersten Blick nicht unbedingt wichtig für Europa. So wie in "Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte" beschrieben, haben wir ein vergleichsweise besseres Krankenversicherungssystem, unsere Banken sind an strengere Regeln gebunden und das Recht auf ein Heim geht vor soziale Energien. Wenn man allerdings genauer hinschaut, fällt auch hierzulande ein schleichender Verfall auf, der zu einer deregulierten Marktwirtschaft ähnlich der Amerikanischen führt. Trotz grober Polemik und manipulativem Inhalt ist Moore's bissiger Beitrag zum Kapitalismus also auch für Interessenten außerhalb Amerikas von Bedeutung. Allein schon wegen den erschütternden Einzelschicksalen sowie diversen hinterhältigen Taktiken in Politik und Wirtschaft.
Wer in Moore's ungenierter Art und seinem stürmischen Vorgehen allerdings keinen Unterhaltungswert sieht, wird hier nicht viel finden. Denn eine anspruchsvolle Dokumentation mit informativen Statistiken und biederen Formeln ist "Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte" (glücklicherweise) nicht geworden.

9 / 10

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