Wie entsteht Vibration?
Man stelle sich eine Hifi-Anlage vor und einen Holzstuhl. Wenn die Anlage eingeschaltet wird, übertragen sich Schwingungen durch die Luft, die zuerst nur von einem Teilchen im Stuhlbein aufgenommen wird. Das Teilchen schwankt hin und her. Plötzlich wird das Nachbarteilchen von dem Schwung mitgerissen und schwingt mit. Der Schwung wird stärker und stärker, die Teilchen animieren sich gegenseitig immer mehr, bis irgendwann der ganze Stuhl wackelt.
Eventuelle Ungenauigkeiten möge man mir verzeihen, denn ich bin in Sachen Physik ein Laie (die Geschichte habe ich in einer Vorlesung über mündliche Kommunikation aufgeschnappt), aber so in etwa funktioniert Roger Michells "Spurwechsel".
Im Vordergrund stehen zwei Figuren, die zunächst einmal überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Auf der einen Seite haben wir einen aufstrebenden Junganwalt (Ben Affleck), der von seiner Kanzlei mit einem wichtigen Fall vertraut wurde und an einem regnerischen Tag mit seinem Auto auf dem Weg zum Gerichtsgebäude ist.
Auf der anderen Seite haben wir einen verzweifelten Ex-Familienvater, der am gleichen Tag einen Gerichtstermin hat, der für ihn die letzte Chance bedeutet, seine Familie zurückzugewinnen.
Wegen einer Unachtsamkeit seitens des Anwaltes verschmelzen beide Schicksale durch einen dummen Unfall miteinander. Der Anwalt, von Eile gedrängt, hinterlässt seine Personalien und lässt den Familienvater daraufhin einfach mit seinem kaputten Auto im Regen stehen. Dadurch verpasst dieser den Termin beim Gericht und damit seine letzte Chance, seine Familie zurückzugewinnen.
Doch der Anwalt hat aus Versehen eine wichtige Akte am Unfallort liegen lassen, die entscheidend für seinen Fall ist. Nun hat der Familienvater diese Akte gefunden. Es beginnt ein persönlicher Kleinkrieg zwischen ihnen, der beide immer tiefer in den Sumpf der Bösartigkeit zieht.
"Spurwechsel" ist schon ein ungewöhnlicher Film. Von der Philosophie her noch am besten mit Joel Schumachers "Nicht auflegen" zu vergleichen, greift sich Mitchell eine einfache Situation aus dem Alltag, wie sie täglich tausendfach passiert, und verwickelt seine beiden Protagonisten in eine scheinbar vermeidliche, wegen der unerbittlichen Natur des Menschen aber doch wieder unvermeidliche Spirale der Gewalt. Jeder baut dem anderen Hürden, wo er kann, um seine eigene Haut zu retten. Der Mensch ist nun einmal sich selbst der Nächste, und dieser Umstand wird hier kritisch unter die Lupe genommen.
Vieles hat symbolische oder metaphorische Bedeutung, wie etwa das ständig graue Wetter, das die Atmosphäre mit Unheil schwängert, oder auch der für sich selbst sprechende Filmtitel. Auch die Charaktere selbst sind gewissermaßen vom Schicksal geführte Bauern auf einem Schachfeld. Schließlich kann der Mensch aus seiner Haut nicht heraus, auch wenn er oft glaubt, die Kontrolle zu haben.
Ben Affleck und Samuel L. Jackson spielen ihre Charaktere entsprechend hoffnungslos und verzweifelt. Sie handeln, sind dabei aber immer unsicher, sie tun dem Gegenspieler Böses an, während ihre Augen gleichzeitig einen Kassandra-Komplex erahnen lassen, der das aufkommende Unheil bereits voraussieht. Ich würde sagen, dass beide eine starke Leistung abliefern, die zwar niemals Genialität erreicht, die vom Regisseur intendierten Zwecke aber immer zuverlässig umsetzt.
Was den Film davon abhält, ein wirkliches Meisterstück zu werden, ist eindeutig das Skript. Vielleicht ließ es sich ja auch nicht vermeiden, aber nachdem der Film schön dezent beginnt, wirken die Handlungen sowohl von Anwalt als auch vom (wenn auch alkoholabhängigen) Familienvater im späteren Verlauf übertrieben und irrational. Wenn der eine den Tod des anderen fahrlässig in Kauf nimmt, dann passt das einfach nicht zur Charakterzeichnung und verzerrt die ganze Aussage des Films. Natürlich muss man dem Zuschauer etwas bieten, aber die Spannung in den aggressiven Dialogen hätte dazu vollkommen ausgereicht.
Das soll aber nicht die aussergewöhnliche Leistung dieses Filmes schmälern. Es ist erfrischend, wie sehr sich dieses, ich will fast sagen Kammerspiel von den Superlativen Hollywoods abwendet, um in Ruhe über das Leben und seine Verzweigungen philosophieren zu können.
Und die Aussage? Wir sind alle zufällig angeordnete Teilchen, die durch Schwingung ihren zufälligen Nachbarn mitschwenken lassen und so die Welt in Bewegung halten.
7/10