Review

Mit "Twin Peaks: Fire Walk With Me" griff David Lynch die von ihm und Mark Frost erschaffene TV-Serie wieder auf, setzt sie jedoch nicht fort, sondern inszeniert jene letzten Tage im Leben der Laura Palmer, welche in der Serie bereits von Agent Cooper weitestgehend rekonstruiert worden waren. Nach der Rekonstruktion also das Ereignis selbst - kein Film über Ermittlung und Aufklärung (wie mysteriös und undurchsichtig auch immer!), sondern ein Film über Erleiden, über Vergewaltigt- und Ermordet-Werden. Vielen "Twink Peak"-Fans war das seinerzeit zu düster und - trotz vertrauter Gesichter - zu fremd; und wer die Serie nicht kannte, wusste nicht mal so ganz genau, worum es eigentlich ging. Ein Film, der - so mutmaßte es die Kritik - vom Erfolg der Serie profitieren wollte, und der dann böse floppte.

Obwohl der Film [Achtung: Spoiler!] eine Art Vorgeschichte erzählt, ist er nicht so recht dafür gemacht, vor der Serie gesehen zu werden. (Zumindest dann nicht, wenn man sich Film und Serie ohne großen zeitlichen Abstand hintereinander einverleibt.) "Twin Peaks: Fire Walk With Me" ist ein gutes Beispiel dafür, dass man aufeinanderfolgende Werke nicht der Chronologie ihrer fiktiven Ereignisse folgend betrachten sollte, sondern der Chronologie der Entstehungszeiten dieser Werke folgend. Das ist in diesem Falle nicht nur deshalb so, weil Lynch beinahe den gesamten Film hindurch immer wieder Figuren auf- und abtreten lässt, die später nicht mehr - oder nur noch kurz am Rande - auftauchen werden und die als Bestandteile der Serie bloß für den "Twin Peaks"-Liebhaber von Bedeutung sind. (Kleine Gastauftritte also, wie Postkarten aus Twin Peaks für die Zuschauer, die lange nicht mehr dort waren - gedreht hatte Lynch ursprünglich viel mehr davon, verwendet nur relativ wenig.) Das ist in diesem Falle auch so, weil hier einige Figuren bereits mit Bedeutung aufgeladen agieren, welche nur die Serie vermittelt, nicht der Film. Auch ohne Serie wird der Zuschauer sicherlich das Verhältnis von Leland und Bob verstehen können, das Verhältnis von Agent Cooper und Laura Palmer dürfte hingegen weitestgehend im Dunkeln bleiben - ganz zu schweigen von der Bedeutung des einarmigen Gerard, der mehr weiß als der Zuschauer, welcher nicht mal weiß, wieso er mehr weiß. Hat man die Serie erstmal gesehen und weiß von der Erzählung zweier mordender Geister, von denen einer - nämlich Mike, der Gerard als Wirtskörper benutzt - sich seines mordenden Arms entledigte, liegen mehr Zusammenhänge offen zutage.

Die Geschichte des mordenden Geistes Bob, der in Laura Palmers Vater Leland schlüpfen wird, um in dieser Gestalt zu morden, wird von Lynch mit einem langen Prolog versehen. Dramaturgisch wirkt das reichlich ungünstig (besonders dann, wenn man die Serie nicht kennt), atmosphärisch gönnt sich Lynch damit allerdings einen vergleichsweise ruhigen Auftakt zu einem sich mehr und mehr verdüsternden Film. Special Agent Chester Desmond und Sam Stanley werden von Gordon Cole (David Lynch höchstpersönlich) beauftragt, den Tod einer gewissen Teresa Banks in Deer Meadow zu untersuchen. In so unwirtlicher wie feindseliger Umgebung kommen sie damit nicht weit: ein "T" unter einem Fingernagel, ein grüner Ring, dann verschwindet Desmond, der den Ring an sich nimmt.
Währenddessen stürmt Agent Cooper in Philadelphia in Coles Büro - es sei der 16. Februar, 10.10 h, und vor diesem Datum habe er wegen seines Traumes Angst gehabt. Ob wir im Folgenden eine Bebilderung des Traumes sehen oder den sich in der Realität wiederholenden Traum (wozu es schließlich so oder so gekommen sein muss), wird nicht eindeutig geklärt. Man sieht einen verschwundenden Agenten (David Bowie) bei Cole auftreten, den Cooper in Coles Raum auf einem Überwachungsbildschirm an sich selbst im Flur vorbeilaufen sieht. Der Verschollene berichtet von seinen Erlebnissen, man hört davon jedoch nur sehr wenig (er habe an einem ihrer (?) Treffen teilgenommen, man lebe in einem Traum), sieht dafür jede Menge seiner (?) Erinnerungen aus einem Lynch-typischen Zwischenreich, in dem sich Mörder Bob und der kleinwüchsige "Man From Another Place" tummeln. Nach diesem Bericht sind die Beteiligten so verwirrt wie der Zuschauer: Der Verschollene ist wieder weg, der Pförtner hat ihn niemals gesehen, die Überwachungskamera hingegen schon und Chester Desmonds Verschwinden wird ihnen auch mitgeteilt. Cooper untersucht das Verschwinden, kommt aber zu keinem Ergebnis. Dann setzt der Hauptteil des Films um Laura Palmer ein, von der Cooper bereits weiß, dass sie das nächste Opfer sein wird, ohne jedoch genau zu wissen, wer und wo sie ist. (Eine etwas später noch eingeschobene Diskussion zwischen Cooper und Albert gibt darüber Aufschluss - Cooper wird im Film nicht mehr in das Geschehen eingreifen, sondern wie in der Serie mit - der dort bereits toten - Laura in einer geistigen Verbindung stehen.)
Dass der Verschollene und der frisch verschwundene Desmond Opfer des mysteriösen Zwischenreiches waren bzw. sind, liegt auf der Hand, wird aber nicht weiter ausgeführt. Die Rätsel der schwarzen Hütte, die Cooper in der Serie selbst zum Verhängnis werden, erfahren hier keine Klärung, sondern werden um weitere rätselhafte Vorgänge ergänzt. Keine Erklärung, sondern bloß mehr Geheimnisvolles, wobei Zusammenhänge allenfalls vage zu erahnen sind.
Der Film macht aus dieser undurchschaubaren Logik, der er folgt, kein Geheimnis: Wenn David Bowie als zurückgekehrter Verschollener verkündet, sie wären alle Figuren eines Traums, dann weist er den Film, dann weist sich der Film im Grunde als Kunstprodukt mit eigenen Regeln und traumhaft losen Zusammenhängen aus. Wohl auch deshalb wird dem Bild dieser Szenen wie schon im Vorspann das s/w-Rauschen eines Fernsehbildschirms hinzugefügt, welches den Film ausdrücklich als medial vermitteltes Kunstprodukt ausweist.[1] Und wohl auch deshalb spielt in Coles (also: Lynchs) seltsamer Codierung des Teresa Banks-Falls eine blaue Rose eine entscheidende Rolle: Die blaue Blume der Romantik, in der sich die Sehnsucht und der Status der Innenwelten des Selbst finden lassen, ist auch bei Lynch in seiner Rolle als Regisseur ein Code.

Nun beginnt die Schilderung des gespenstischen Mordes an Laura Palmer mit all ihren vorangehenden Erlebnissen. Eine übernatürliche, phantasievolle, realitätsferne Spukgeschichte, in der sich aber auch ein Kern Realität finden lassen wird - so, wie sich auch im Bildschirm des Fernsehers Realität verarbeitet wiederfindet, wie auch die blaue Blume eine andere Form der Realität verspricht. "Twin Peaks: Fire Walk With Me" läuft in dieser Hinsicht geradezu widersprüchlich auseinander: Auf der Ebene der Handlung sind mordende Geister, warnende Visionen höchst real, Bob ist keine Einbildung von jemandem, kein Alptraum, keine Halluzination, sondern tatsächlich ein mordender Geist, der von den Menschen Besitz ergreift. Auf einer anderen Ebene steht er aber auch sehr wohl für das Böse im Menschen, das sich eigentlich aber gerade nicht in eine Personifizierung pressen lässt, weshalb sich diese mögliche metaphorische Bedeutung Bobs niemals wirklich durchsetzt und immer auch (der rein handlungsmäßig ja relativ unschuldige, da besessene) Leland als Täter präsent ist: In "Twin Peaks: Fire Walk With Me" geht es vor allem nämlich um häusliche, familiäre Gewalt, die fest in der Gesellschaft verankert ist und daher nicht als monströser Sonderfall aufgefasst werden sollte. Auch wenn die Besessenheit durch den bösen Geist Bob sicherlich einen Ausnahmezustand darstellt, schafft es Lynch dennoch, die Übergriffe Lelands gegenüber seiner Tochter unmerklich aus dem scheinbar normalen Alltag heraus entstehen zu lassen.
Der recht lose verlaufende rote Faden, der Lauras Weg bis zu ihrer Ermordung schildert, bietet Lynch genügend Möglichkeit, viele Figuren der Serie auch im Film unterbringen zu können. Zu Beginn des Laura-Palmer-Teils spricht sie mit ihrer Freundin Donna über ihre Verehrer James Hurley und Bobby Briggs, denen sie selbst auf unterschiedliche Weise durchaus zugeneigt ist. Mit Bobby, der wie sie regelmäßig kokst, ist sie nicht zuletzt zusammen, weil sie über ihn leicht an die Drogen herankommt - dennoch wird der nach außen hin recht harte Bobby nach der Erkenntnis, dass dem so ist, Laura nicht verstoßen. Laura hingegen wird - gegen Ende des Films - James verstoßen, bzw. sich ihm entziehen, da seine Laura nicht mehr existiere. Tatsächlich ist die mal dem braven James, mal dem rebellischen Bobby zugeneigte Laura auch in sich selbst hin- und hergerissen, es wohnen quasi zwei Seelen in ihrer Brust: Nach der ersten Donna-Laura-Episode wird sie ihrem Vertrauten Harold Smith berichten, dass ihr Bob, den Harold für eine pure Fiktion hält, Seiten ihres Tagebuches entwendet habe; seit ihrem 12. Lebensjahr stelle er ihr nach und versuche, sie zu sein - falls es ihm nicht gelinge, werde er sie töten. Für Sekundenbruchteile wandelt sich ihr Gesicht in eine dämonische Fratze, das Böse scheint Besitz von ihr zu ergreifen, aber nach diesem so unwirklichen wie kurzen Zwischenfall ist sie wieder ganz sie selbst. Sie verlässt Harold, der ihr Tagebuch bei sich verstecken soll. (In der Serie findet Cooper es dann bei ihm.)
Nach dem kurzen Cooper/Albert-Zwischenspiel, in dem Cooper die ihm eigentlich völlig unbekannte Laura als nächstes Opfer erspürt, wird Laura beim Essen-auf-Rädern-Dienst gezeigt. Eine ältere Dame (Frances Bay, die schon in "Blue Velvet" dabei war und in Carpenters "In the Mouth of Madness" (1994) eine ähnlich unheimliche Rolle übernehmen sollte) und ihr Enkel - tatsächlich geisterhafte Wesen der Zwischenwelt im "Twin Peaks"-Kosmos, die schon in den Traumbildern Coopers bzw. den Erinnerungsbildern des verschollenen FBI-Agenten auftauchten! - überreichen Laura das Bild eine leeren Raumes mit geöffneter Tür; "The man behind the mask is looking for the book with the pages torn out", raunt ihr der Junge unheilverkündend zu. Daheim wird Bob Laura dann endlich erscheinen - sie flieht Hals über Kopf aus dem Haus, aus dem als nächstes zu Lauras Entsetzen ihr Vater Leland tritt.
Aufgelöst sucht Laura Hilfe bei Donna, am Abend kommt es bei ihr daheim zu einem ersten Übergriff Lelands: Er fragt Laura über die Schule aus, es folgt ein wenig Geplänkel, dann rügt er sie heftig wegen schmutziger Fingernägel. Beim Anblick ihres Anhängers (auch diesen findet Cooper in der Serie!) fragt er seine Tochter nach ihren Liebhabern aus, die Situation ist längst in ein quälend-peinliches Verhör übergegangen, dem Lauras entsetzte Mutter als hilf- & ratlose Zeugin beiwohnt.
In der Nacht - nachdem sich Leland sehr aufgewühlt und irritierend intim bei der Tochter, die er doch so sehr liebe, entschuldigt hat - wechselt Laura im Traum in eine andere Realität, in die Realität des leeren Bildes: Die alte Dame, ihr Enkel, der "Man from Another Place", welcher andeutet, der abgeschlagene Arm Mikes zu sein, und Agent Cooper erscheinen ihr; letzterer rät ihr davon ab, den grünen Ring anzunehmen, den der Kleinwüchsige ihr reicht. Nach dem scheinbaren Erwachen hält sie den Ring in der Hand und Annie Blackburn (die in der Serie gegen Ende eine enge Beziehung zu Cooper aufbaut und dort in den Kleidern, die sie hier trägt, mit ihm zusammen in der letzten Folge die Ereignisse im roten Zimmer des "Man from Another Place" durchlebt!) liegt blutüberströmt neben ihr: der gute Dale, so erzählt sie das Ende der Serie vorwegnehmend selbiges nach, sei gefangen in der Hütte... Laura solle dies in ihr Tagebuch schreiben. (Lynch hat betont, dass dieser Tagebucheintrag in der Serie noch hätte vorkommen sollen, wäre sie denn fortgesetzt worden.[2])
Es folgen Versuche Bobbys, zunächst mit Leo Johnson, dann mit Jacques Renault an neue Drogen zu gelangen. Jacques sagt zu, ihm in zwei Nächten in den Wäldern jemanden zu schicken. In der Nacht vor diesem Treffen kehrt Laura - nach kurzer Begegnung mit der Log Lady - im Roadhouse ein, wo sie sich gegen Geld zwei Kerlen hinzugeben gedenkt. (Die Prostitution als Teil der dunklen Seite Lauras deckt Cooper in der Serie nach und nach auf.) Jacques stößt zu ihnen, ebenso Donna, die Laura ursprünglich gar nicht dabei haben wollte, die dann aber trotzdem ins Roadhouse gekommen ist. (Hier thematisiert Lynch dann auch Lauras Arbeit im One Eyed Jacks und schlägt dann einen Bogen zu Teresa Banks und - noch nicht namentlich genannt - Leland: wie man später erfährt, wollte Teresa Leland erpressen, der als Freier zu ihren Kunden zählte und bei einem verlangten "Vierer" einen Rückzieher machte, als er unter Teresas Freundinnen Ronette und seine Tochter Laura entdeckte.) Mitten im Oralverkehr sieht Laura dann Donna während anzüglicher Intimitäten mit einem Fremden, stürmt zu ihnen und verlässt mit Donna den Laden. Am Tag darauf teilt sie ihrer Freundin mit, sie wolle nicht, dass sie so werde wie sie.
Leland kommt herbei, erinnert sich beim Anblick von Laura und Donna an Laura und Ronette (in Unterwäsche) und nimmt Laura schließlich zum Frühstück mit sich. Auf der Fahrt geraten sie in einer irrsinnig lärmenden Szene an den Einarmigen (den grünen Ring an der einen Hand tragend!), in dem sich der Geist Mike zu Wort meldet, der die künftigen Ereignisse zu verhindern gedenkt und Laura davon in Kenntnis zu setzen versucht, dass Bob Leland bewohnt. Hier kommt es auch zu einem Flashback Lelands, der die entscheidende Begegnung mit Teresa Banks vor ihrer Ermordung durch ihn nochmals durchlebt - ein Flashback, in dem allerdings auch wieder die gespenstischen Zwischenreich-Bewohner zu sehen sind, die Lelands Aufmerksamkeit zum damaligen Zeitpunkt allerdings vollständig entgangen sind.
Zuhause erkennt Laura, dass der Ring aus den Träumen mit dem Ring des einarmigen Gerard identisch ist - und dass auch Teresa ihn getragen hatte. Gleichzeitig erlebt Leland Teresas Ermordung nochmals. Es folgt ein Treffen mit Bobby in der Schule, dann die nächtliche Drogenübergabe in den Wäldern, bei der Bobby den Boten - es ist der Cop aus Deer Meadow, mit dem Agent Desmond aneinandergeraten ist - aus Notwehr an- und aus Panik erschießt, was die benebelte Laura mit einem hysterischen Lachflash registriert.
Am nächsten Abend betäubt Leland seine Frau mit einem Glas speziell angereicherter Milch und fällt - abwechselnd in seiner und in Bobs Gestalt - über Laura her, die er vergewaltigt. Es folgt das familiäre Frühstücksessen, bei dem Laura entsprechend aufgelöst ist. Ihre Mutter will ihr helfen, Leland schreitet jedoch ein und will Laura beruhigen, die ihn jedoch deutlich zurückweist. Es folgt der katastrophale Schultag, ein Treffen mit Bobby - bei dem er bemerkt, dass Laura mehr am Koks als an ihm interessiert ist - und abends ein Treffen mit James - bei dem sie verkündet, seine Laura existiere nicht mehr. Sie verlässt James und läuft in die Wälder, wo sie auf Ronette, Leo und Jacques trifft. In Jacques Hütte (hier ein paar Großaufnahmen Beos, der in der Serie als Zeuge von Interesse ist) kommt es - gegen Lauras Willen - zum Bondage-Gruppensex, bis Leland/Bob auftaucht und über Jacques herfällt. Leo flieht und Leland/Bob nimmt die gefesselten Frauen mit sich zum alten Güterwagen. Zeitgleich eilt Gerard/Mike durch die Wälder. Im Güterwagen will Bob von Laura Besitz ergreifen, Ronettes Gebet lässt einen Engel erscheinen, mit dessen Erscheinen die Fesseln der jungen Frauen verschwinden; und Gerard/Mike kann seinen Ring in den Wagen schmeißen, als Leland/Bob die malträtierte Ronette herausschmeißt. Laura steckt sich den Ring an, Bob kann nicht in sie fahren und Leland/Bob stechen sie nieder. Ihr eingewickelter Leichnam fließt schließlich im Fluß hinab, während im roten Raum des "Man from Another Place" Laura und Dale Cooper unter der schützenden Hand eines verheißungsvollen Engels zusammenkommen. Über Lauras sanft lächelndes Gesicht läuft schließlich der Abspann.

Wie genau die Regeln und Gesetze des Zwischenreiches gestrickt sind, darüber gibt der Film keinerlei Aufschluss. Der schützende grüne Ring, der Bob scheinbar den Zugang versperrt, gleichwohl Mike in Gerard als Träger des Rings zu hausen vermag, die Schutzengel, die - auch auf Gemälden - auftauchen und verschwinden, die Rolle des "Man from Another Place", der nun der abgeschlagene Arm Mikes sein könnte... all dies muss der Zuschauer nehmen, wie es kommt. Die Erscheinungen und Zwischenreiche bleiben im Prinzip so rätselhaft, wie sie es anfangs schon immer waren. Damit wirft "Twin Peaks: Fire Walk With Me" letztlich auch Fragen auf, anstatt bloß die Rekonstruktion des Palmer-Mordes, wie sie in der Serie dargereicht wird, umzusetzen.
So bleibt der Film auf einer Ebene eine etwas undurchsichtige Geistergeschichte, die eigenen, geheimen Regeln folgt; kennt man die Serie nicht, steigert sich die Undurchsichtigkeit des vermeintlichen Prequels nochmals aufgrund der bald unüberschaubaren Anzahl an Nebenfiguren. Die episodische Abfolge, mit der Lynch diese aneinanderreiht, sorgt nicht unbedingt für Kohärenz und erklärt sich eher durch den Verlauf der Serie. In der Dramaturgie bleibt der Film somit auch reichlich rätselhaft und gelinde gesagt ziemlich eigenwillig.
Seine Stärken liegen daher auch weniger in der Konzeption des Ganzen, als vielmehr in zahlreichen Einzelepisoden, in denen Lynch mitunter ausgesprochen starke Szenen liefert. Zwischendurch - etwa im Schulalltag oder in einer kurzen Szene um Leo Johnson - fällt die Inszenierung auch schonmal auf allenfalls durchschnittliches Niveau ohne eigene Handschrift ab. Aber die Traum- und Zwischenreich-Sequenzen bieten Lynch jede Menge Platz für atmosphärische Situationen, in denen Unschärfe, Rauschen, tiefe Tonspuren - oder lärmende Tonkulissen (wie im Fall der Autofahrt, die von Gerard/Mike "gestört" wird) - und ungewöhnliche Beleuchtungen tonangebend sind. Und gerade die lange Roadhouse-Szene, in der Lynch sein schon in "Blue Velvet" (1986) unter Beweis gestelltes Faible für rot/blau-Töne auslebt, nimmt den Zuschauer mit der permanenten, offensiven Musikuntermalung, die die unwirklich ausgeleuchteten Bilder untermalt, ziemlich in Beschlag.

Die beunruhigenden Szenen, die sich mit souveräner inszenatorischer Finesse den Übergriffen des besessenen Familienvaters auf die eigene Tochter widmen, sind gesondert hervorzuheben, handelt es sich doch - trotz des Geistes Bob - nicht bloß um rein übersinnliche Spukerscheinungen, sondern um eine glanzvolle Demontage der Vorstellung des perfekten Familienlebens. Familie war schon in "The Grandmother" (1970) ein Hort des Schreckens, in dem Unterdrückung und Zwang vorherrschend waren (wenngleich sie andererseits aber auch wieder Schutz bieten konnte: der von den Eltern gestrafte Bettnässer findet schließlich bei einer "gezüchteten" Großmutter Zuflucht), während "Eraserhead" (1977) die Familie zumindest als unerträgliche Last und Verpflichtung zeichnete - ganz zu schweigen vom Bild einer mörderischen Mutter in "Wild at Heart" (1990).
Diese Tendenz setzt sich hier fort, angereichert um die "Blue Velvet"-Erkenntnis, dass das Untergründige gleich hinter der saubersten Fassade stecken kann.[3] Um das Inzest-Motiv als solches wahrnehmen zu können, muss man - es versteht sich von selbst - die übernatürliche Ebene von Geistern und Besessenheit ausblenden. Um das Inzest-Motiv im Film zu verstehen, muss man zunächst aber auch - was sich nicht von selbst versteht - den Inzest ausblenden: Es lohnt sich, fernab der Vergewaltigung Lauras durch den Vater, das scheinbar normale Familienleben zu betrachten, soweit der Film sich diesem widmet.
Das gemeinsame Essen der Familie, bei dem Laura wegen angeblich schmutziger Fingernägel gedemütigt wird, ist eine wundervolle Szene, die eindringlich den gewalttätigen Charakter von Erziehung in der Familie herausarbeitet: Es ist der bloße Status des Vaters, der es ihm ermöglicht, über seine Tochter zu bestimmen - sie muss Rede und Antwort stehen (darüber, wie es in der Schule gewesen sei, ob sie einen neuen Freund habe), sich scharf kritisieren lassen (wegen der schmutzigen Fingernägel) und hat darüber hinaus Befehle zu befolgen (nämlich aufzustehen und die Hände zu waschen, bevor man mit dem Essen beginnt).[4] Selbst bei der anschließenden Entschuldigung des Vaters bei der sichtlich verstörten Tochter steht der besitzergreifende Charakter des Ganzen im Vordergrund: Die Umarmung geht von ihm aus, er fasst die Tochter an, er hält sie fest - Besitzergreifung par excellence.
Im Prinzip ist diese demütigende Bestrafungsszene am Esstisch ein nur geringfügig übersteigertes Erziehungsritual. Grundsätzlich sind Bestrafung, Scham und bedingungsloser Respekt vor den Erziehenden fest verankerte Elemente der Erziehung. "Twin Peaks: Fire Walk With Me" dehnt diese Aspekte allerdings qualvoll in die Länge und auch angesichts des doch schon hohen Alters der Laura Palmer Darstellerin wirken sie zusätzlich recht unangebracht. Diese irritierende Übersteigerung, die die Szene dennoch im Bereich des Möglichen belässt, kitzelt aus klassischen Erziehungsmethoden das unerhörte Element heraus. Dabei liegt die Problematik nicht in den Erziehungsmethoden selbst, sondern im Umgang mit diesen: wenn der Schwerpunkt sich von ihrer Notwendigkeit auf ihre totale Selbstverständlichkeit verschiebt, wenn man ein völliges Besitzrecht am eigenen Kind zu haben glaubt, ist eine Grenze überschritten.
Solch ein Besitzrecht nimmt Leland für sich in Anspruch, wenn er grundlos Antworten von Laura über ihre Privatsphäre verlangt - er erbittet sie nicht mal -, wenn er recht willkürlich die beschämende Bestrafung für angeblich schmutzige Nägel gegen die völlige Verstörung seiner Tochter durchsetzt. An diesem Punkt setzen sich die eigenen Interessen über das Interesse der Erziehung hinweg - von hier ist es auch letztlich nicht mehr weit zum inzestuösen Kindesmissbrauch, der keinesfalls die Tat eines wahnsinnigen Ausnahmetäters ist, sondern eher schon ein Bestandteil des normalen Alltags.[5]
Dass Lynch sich nicht auf den Inzestfall beschränkt, sondern ihm die eindringlich-beklemmende Szene der unangebrachten Erziehungsmaßnahme voranstellt, ist ein wundervoller Einfall, mit dem er das Extrem des vergewaltigenden Vaters langsam hinübergleiten lässt in die scheinbar Normalität des Familienlebens. Das Besitzdenken, der Anspruch, über den Nachwuchs verfügen zu können, ist - bei selbstverständlich völlig anderer Motivation - in beiden Fällen derselbe. Wie in "Blue Velvet" lauert die Gewalt hinter der schönen Fassade des Normalen und Idyllischen.

Mit dem Übernatürlichen des "Twin Peaks"-Kosmos droht freilich diese Annahme des Unerhörten mitten im Alltäglichen zu zerbrechen, schließlich hat das Unerhörte seinen Ursprung nun in einer seltsamen Zwischenwelt: nicht mehr Leland fällt über seine Tochter her, sondern ein böser Geist. Zwar ist Bob mehr (oder auch weniger) als eine konkrete Person, letztlich nämlich ein böses Prinzip, das so ziemlich jeden befallen kann - dennoch verlagert sich der Ursprung der unerhörten Tat: er wird dämonisiert und wieder stark von der Normalität abgegrenzt.[6]
Dass Lynchs Film aber dennoch auch als Demontage gängiger Familienbilder funktioniert und nicht auf eine übernatürliche Schauergeschichte beschränkt bleibt, ergibt sich daraus, dass der Film in Einzelszenen anders wahrnehmbar ist, als er sich letztlich handlungsmäßig erklärt. Nicht Metaphern (die man zwar annehmen kann, die einen aber nirgends hinführen), sondern Uneindeutigkeiten liefern den Schlüssel: So wird nie vollkommen eindeutig klar, ob & wann Leland er selbst, und wann er unter Bobs Einfluss steht; es wird nie klar, wieviel von Lelands Geist noch vorhanden ist, wenn er von Bob übernommen wird... man kann sich als Zuschauer nicht völlig sicher sein, wieviele der Taten Lelands nun auf Bob zurückzuführen sind und ob nicht doch etwas von ihm selbst in ihnen steckt. Bei der ersten Betrachtung und fernab vom Wissen um die Ereignisse der TV-Serie besteht - auch wenn einen Coopers relativ eindeutig hellsichtige Begabung misstrauisch werden lässt - lange Zeit die Möglichkeit, Bob als eine Einbildung Lauras als Abwehrreaktion auf die Übergriffe des eigenen Vaters fehlzudeuten. Ihre aktuelle Drogensucht und der Umstand, dass sie Bob seit dem 12. Lebensjahr wahrnimmt, lassen sich da durchaus als Bekräftigung dieses Verdachts auffassen. Aber der Film wird diese Überlegungen zum Ende hin mehr und mehr beseitigen. Es ist ein bisschen wie mit Kubricks "The Shining" (1980), der auch lange Zeit den Eindruck des bloßen Wahnsinns der Hauptfigur erweckt, um am Ende tatsächliche Geister zu präsentieren.[7]
Auf diese Art und Weise kann Lynch einen Restzweifel bewahren, der den gewaltsamen inzestuösen Übergriff nicht vollständig aus dem Verantwortungsbereich des Vaters in übernatürliche Gefilde verschiebt. Viel stärker als die Serie konzentriert sich der Film auf die abgründigen "Twin Peaks"-Motive und liefert dabei ein äußerst sensibles, hellsichtiges Werk mit einem Hang zur Gesellschaftskritik ab. Dass Lynch zufolge auf den Film eine Briefwelle folgte, in denen Missbrauchsopfer die Untaten im Film als eine sehr authentisch vermittelte Missbrauchserfahrung beschrieben, mag - sofern man es denn glauben will - für sich sprechen.[8] Angesichts solch aufwühlender Emotionalität überrascht es wohl auch nicht, dass Lynch gerade diesen Flop zu seinen persönlichsten Arbeiten zählt.

"Twin Peaks: Fire Walk With Me" ist aber letztlich ein in sich ziemlich disparater Streifen: dramaturgisch (solange man die Serie nicht kennt) weit weniger kohärent als die Serie, bzw. (kennt man die Serie bereits) deutlich kohärenter als sie; in etlichen Szenen formal höchst experimentell und kreativ, in einigen Szenen von belangloser Durchschnittlichkeit; in seinen phantastischen Elementen weder metaphorisch, noch als visualisiertes Innenleben zu verstehen und dennoch ein Kommentar auf nur zu alltägliche Missstände.
Dass bedingungslose Fans der Serie dem Film den nur noch sehr kleinen Anteil heiterer Szenen ankreideten, ist nur zu verständlich: Fandom und Gewöhnung gehen Hand in Hand, Veränderungen sind da immer ein Risiko... Wer aber bärenstarke, einäugige, rasende Hausfrauen, die sich für Teenager halten, und den Bürgerkrieg nachspielende Geschäftsmänner ohnehin als zu albern ablehnt, dürfte die Veränderungen im Film - welcher im Gegensatz zur Serie auch viel deutlicher Lynchs Handschrift aufweist - hingegen begrüßen.
6,5/10


1.) Und wenn nach dem Ende des Vorspanns der Film mit einem explodierendem Fernseher beginnt, geht es dabei nicht nur um den zertrümmerten Fernseher, der das erste Opfer von Lelands/Bobs Aggressionen wird, ehe dieser Teresa Banks mordet - das Bild ist zugleich als Zeichen des medialen Wechsels zu verstehen: "Twin Peaks" hat den Fernseher nun zugunsten der Leinwand verlassen, das TV-"Twin Peaks" der Serie wird vom Film in Stücke zerhauen, "Twin Peaks: Fire Walk With Me" ist etwas anderes. (Und in den Einspielergebnissen sollte sich das dann auch niederschlagen.)
2.) Vgl.: Chris Rodley (Hg.): Lynch über Lynch. Verlag der Autoren 2002. S. 251.
3.) Lynch selbst sieht diese Erkenntnis als zentrales Motiv seines filmischen Werkes: "Was die Oberflächen zeigen, ist nur ein Teil der Wahrheit. [...] In jedem meiner Filme geht es um die Oberfläche der Dinge und was sich darunter verbirgt." (Robert Fischer: David Lynch. Die dunkle Seite der Seele. Heyne 1992. S. 23.)
4.) Dass die Mutter hilflos zuschaut (und sich später im Film von ihrem Mann befehligen lässt, um schließlich gar von ihm betäubt zu werden) weitet die Erzieher-Kind-Beziehung dann noch auf ein generelles Geschlechterverhältnis aus: Als Vater ist Mann tatsächlich der sprichwörtliche Herr im Hause - als Erzieher über die Kinder, als Mann über die Frau(en).
5.) Schließlich liegt - bei vergleichsweise wenig bekannten Fällen im Hellfeld - die Anzahl der im Kindesalter von Familienangehörigen sexueller Gewalt ausgesetzten Frauen hierzulande (!) bei 2,6% (so eine Statistik mit über 3200 Befragten - über 1600 davon weiblich -, die 1997 am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt worden ist), womit eins von nicht ganz 39 Mädchen betroffen wäre. (Eine 1992 in Minnesota erfolgte Befragung von über 75.000 9.- bis 12.-Klässler(inne)n kam auf 3,0% betroffene Mädchen.) Etwa genauso häufig erfolgt sexuelle Gewalt durch Fremde, ca. doppelt so häufig sexuelle Gewalt durch nahestehende Bekannte. Je nach Altersangaben und Definition von sexueller Gewalt sind laut KFN-Statistik 6,2-18,1% aller Frauen im Kinder- oder Jugendalter mindestens einmal Opfer sexueller Gewalt geworden. Freilich eine Minderheit, allerdings eine deutlich wahrnehmbare und keinesfalls seltene.
Vgl: Prof. Dr. Peter Zimmermann: Sexuelle Gewalt gegen Kinder in Familien. Deutsches Jugendinstitut e.V. 2010. S. 9-15.
6.) Andererseits umgehen Lynch und Frost in "Twin Peaks" mit der Figur des Geistes Bob der Gefahr, den Tätervater selbst zum Monstrum werden zu lassen: "Er [Leland] ist ein Opfer. Kein Mensch, der Böses tut, ist ausschließlich böse. Ihm wächst nur ein Problem über den Kopf. Es heißt immer, 'Er war so ein netter Nachbar. Ich kann es nicht fassen, daß er den Kindern und seiner Frau das angetan hat.' Es ist immer dasselbe." (Rodley: Lynch über Lynch. S. 239.) Wobei das Besessenheitsmotiv trotz allem eine sehr simplifizierende Lösung darstellt.
7.) Lynch selbst sieht ebenfalls eine - allerdings andere - Parallele zu Kubricks Horrorfilm, wobei es ihm um Bobs erstes Erscheinen am hellichten Tag geht: "Nachts wäre man auf so etwas gefaßt. Es wäre immer noch gruselig, aber am Tag - bei strahlendem Sonnenschein - rechnet man nicht damit. Es ist wie in 'The Shining', wenn der Junge auf dem Dreirad um die Ecke kommt, und da stehen die Zwillinge! Man weiß genau, daß sie um diese Zeit nicht dort hingehören." (Rodley: Lynch über Lynch. S. 238.)
8.) Vgl. Rodley: Lynch über Lynch. S. 11.

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