„Es gibt keine Unschuldigen. Die Menschen sind Verbrecher.“
Der leider bereits vorletzte Film des zu früh verstorbenen französischen Ausnahmeregisseurs Jean-Pierre Melville („Armee im Schatten“) wurde der Gangster-Thriller „Vier im roten Kreis“ aus dem Jahre 1970, ein in über zwei Stunden Laufzeit eigenwillig montierter Film mit unbedingtem Stilwillen, der sich als prägend für die weitere Entwicklung des Genres erweisen sollte.
„Nichts vermag die natürliche Veranlagung eines Menschen zu ändern!“
Einbrecher Corey (Alain Delon, „Nackt unter Leder“) hat seine fünfjährige Haftstrafe verbüßt, kurz vor seiner Entlassung aus dem Marseiller Gefängnis jedoch von einem Wärter den Hinweis auf einen lukrativen Coup erhalten: Er, der Wärter, wisse, wie das nahezu perfekte Sicherheitssystem eines Pariser Nobeljuweliers zu umgehen sei. Flüchtig ist hingegen Vogel (Gian Maria Volonté, „Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger“), der während einer Nachtzugfahrt von Marseille nach Paris seinem Bewacher Kommissar Mattei (Bourvil, „Das Superhirn“) entkommen ist. Er versteckt sich ausgerechnet im Kofferraum des Autos Coreys, der ihn bald bemerkt, bei einer Polizeikontrolle aber nicht verpfeift. Gemeinsam plant man den Bruch beim besagten Juwelier, wofür man den alkoholkranken Scharfschützen Jansen (Yves Montand, „Lohn der Angst“), einen ehemaligen Bullen, anheuert. Es gilt jedoch, sowohl vor ehemaligen Komplizen Coreys auf der Hut zu sein, die noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen haben, als auch den sich ihnen an die Fersen heftenden Kommissar Mattei abzuschütteln…
„Alle Menschen, Monsieur Mattei.“
Melville beginnt seinen Film mit einem vermeintlichen Zitat Rama Krischnas in Texttafelform, das Melville, so sagt man, sich selbst ausgedacht habe, Es dauert eine Weile, bis das erste Wort gesprochen wird, die Figuren werden auch im weiteren Verlauf eher wortkarg bleiben. Coreys nun offenbar mit einem seiner ehemaligen Komplizen liierte Ex-Freundin zeigt sich nackt, spielt in dieser über sie hinaus auf jegliche Weiblichkeit verzichtenden, betont unterkühlt durchchoreographierten Gangsterballade aber ansonsten keinerlei Rolle. Corey ist die personifizierte Coolheit, Vogel steigt mit angezündeter Zigarette in dessen Kofferraum. Jansen hilft der Scharfschützenjob, endlich einmal seine Trunksucht zu vergessen, und die sich noch im Dienst befindende Polizei ist wenig besser als das Verbrecher-Trio, muss es doch zu harschen und ungesetzlichen Methoden greifen, um auf dessen Spur zu kommen. Dieses geriert sich als Edel-Gangster, ist stets gut gekleidet, bei scharfem Verstand und überlebenswichtigem Instinkt.
Der Coup wird schließlich in Echtzeit durchgeführt und in allen Details gezeigt; aufgrund der Kleidung der Ganoven und der Stille hat er etwas Pantomimisches an sich. Melville entschied sich für ein sehr langsames Erzähltempo und verfolgt einen äußerst behutsamen Spannungsaufbau, der Film ist somit nichts für ein einen actionreichen No-Brainer erwartendes Publikum. Ihn als Heist Movie mit zu langer Exposition zu bezeichnen, würde ihm jedoch nicht gerecht. Melvilles Stil ist Teil seiner Substanz, nicht zuletzt erinnert „Vier im roten Kreis“ atmosphärisch an hochklassige Vertreter des Italo-Westerns. Die maskuline Schicksalsgemeinschaft aus Antihelden im stets ungemütlich grauen Wetter einer kalten Welt ist auch dem Film noir entlehnt, Kleidung und Fuhrpark – ausschließlich US-Vehikel – wirken wie direkt dem klassischen amerikanischen Gangsterkino entnommen. Und seine verhandelten Motive wie Loyalität und Verrat, Ehre und Niedertracht, Gemeinschaft und Einsamkeit, Hoffnung und Fatalismus bis hin zu Leben und Tod von ihrem vorbestimmten Schicksal wie in einem sich immer enger ziehenden Kreis nicht entkommen könnenden Figuren sind jene epischer Tragödien.
Verschiedene bizarre Tanznummern aus Santis Bar ziehen sich durch den Film, der mit einigen mehr oder weniger versteckten, sehr schönen Details die Aufmerksamkeit seines Publikums herausfordert bzw. belohnt und mit einer visualisierten Alptraumszene von auf ein Bett zukriechendem Viehzeug verstörend überrascht. Überraschend ist es dann auch, wie schnell Melville das Ende abfrühstückt, insbesondere nach der so langsamen – aber nie langatmigen – Inszenierung und Narration bis zu diesem Punkt. Melville zog mich bei der Erstsichtung derart mit in seinen Kreis hinein, dass mir die Anschlussfehler in Bezug auf den Verschmutzungsgrad von Kleidung und Kraftfahrzeugen, die es wohl geben soll, gar nicht auffielen.
Sollte man als Freund oder Freundin europäischen Genrekinos der alten Schule gesehen haben.