Der deutsche Film ist mir zugegebenermaßen bislang in vielen Fällen suspekt gewesen, ganz pauschal gesprochen, und zwar ohne eigenes Verschulden. Authentische, mir nahe Schauplätze mit höchstem Wiedererkennungswert, bekannte kulturelle Fragmente und regional, fast heimatlich klingende Intonation in der Originaltonspur. Das sind alles Dinge, die ich in einem Film nicht hören und sehen möchte. Um es mit Sydney Pollacks Worten zu sagen: “Die Realität kenne ich. Ich will etwas Besseres.”
Nun ist es selbstverständlich feige und faul, sich das Zitat eines großen Regisseurs zurechtzubiegen und sich hinter einem derart bequemen Vorurteil zu verstecken, um sich dem deutschen Film verschließen zu können. Denn das sind Fehler, die bei mir, dem Konsumenten liegen, nicht beim Film.
Für ignorante Menschen wie mich flüchtet sich “Das weiße Rauschen” komplett in die Offensive und fährt eigentlich alles auf, was meinesgleichen für gewöhnlich von hausgemachten Produktionen abhält. Die Handlung findet keine Stunde mit dem Zug von meinem Haus entfernt statt, gefilmt ist alles mit Digitalkamera an Originalschauplätzen und die Stimmen der Schauspieler erklingen so widerlich authentisch, als stünde ich gleich daneben. Es will mir einfach nicht gelingen, mich in das Gefühl einer Erzählung einzufinden, für das ich das Medium Film so sehr schätze. Es ist, als würde ich mit Freunden auf dem Balkon stehen und ein Bier trinken, dabei will ich doch jetzt einfach nur daliegen und vom Alltag abschalten, mich von einer unterhaltsamen Geschichte einsäuseln lassen.
Aber...
Irgendwie ist es diesmal gut, dass ich so tief in der Situation verankert bin und quasi selbst im Film mitspiele, denn nun bekomme ich aus nächster Nähe mit, wie Lukas (Daniel Brühl) Scorseses Taxifahrer Travis Bickle nacheifert und von seiner Umwelt gedrängt langsam in den Wahnsinn abdriftet. Diesmal allerdings aus einer anderen, aus der In-Head-Perspektive. Ich beobachte nicht aus Travis’ Blickfeld die Stadt, sondern aus dem Blickfeld der Stadt beobachte ich Lukas. Obwohl ich in seinen Kopf schauen kann und höre, was er hört. Eine verdammt abgedrehte Perspektive, die sich mir da bietet.
Dabei baut Regisseur Hans Weingartner den brav erscheinenden Brühl zunächst geschickt als Identifikationsfigur auf, um ihn mir mit einem Ruck wieder zu entreißen. Kaum hat er nämlich die verdutzte Kino-Kassiererin in einem irrationalen Wutanfall mit dem Wort “Fotze” angeschrieen, nimmt mir die Flut den Jungen wieder. Mit Jemandem, der zunächst seine Hand wie eine Pistole auf seine neue Freundin richtet - noch harmlos, wie im Spiel - um dann vor Wut auszurasten, weil er selbst sich im Programm geirrt hat und nicht “Taxi Driver”, sondern “Rebecca” gezeigt wird, kann ich mich nicht mehr identifizieren. Zusammen mit seinem Date versinke ich im Boden vor Scham darüber, dass ich es überhaupt jemals getan habe.
Was bis hierhin noch wie das Jugenddrama eines Hochschulabsolventen wirkt, wandelt sich abrupt zum grotesken Kammerspiel, das vor allem akustische Signale ausreizt, teilweise vermengt mit visuellen Reizen, um eine wahnsinnig realistische Paranoia zu erzeugen. Die Stimmen kommen plötzlich im Auto, verschwinden dann, um im Apartment wiederzukehren und nicht mehr zu fortzugehen. Kein unfreiwillig komisches Geplapper ist hier zu hören, sondern psychologisch ausgereifter, kognitiv-assoziativer Terror, der jede Handlung verächtlich kommentiert und schließlich zum Selbstmord rät. Fieses, hinterhältiges Geflüster, alles, was mir unangenehm erscheint. Man wird weder gerne beleidigt noch mag man es, dass sich Andere hinter seinem Rücken das Maul zerreißen.
Der bis dahin relativ unauffällige Daniel Brühl läuft hier zur Hochform auf - er legt eine Wahnsinnsperformance aufs Parkett und jener Wahnsinn erhält Einzug in seine Gesichtszüge, die bisher Unschuld, Stress und Erschöpfung durch den Umzug nach Köln beheimateten. Das ist schon ein Moment, wenn er seinem Kumpel, der nichts Böses ahnt, gegenübertritt und anschaut, als wolle er ihn mit seinen Blicken physisch durchbohren. Eine Reaktion auf seine Stimmen, eine von Vielen. Später spricht er dann mit ihnen, hält sich die Ohren zu, schreit sie an, ignoriert sie oder lacht sie aus - doch sie haben immer wieder eine passende Antwort parat, fast immer böswillig oder schier bedrohlich. Seine Mitbewohner passen da nicht mehr ins Bild, sie müssen folgerichtig zu den Verschwörern zählen.
Diese mit Abstand stärksten Minuten des Films enden schließlich in einem Krankenhaus, wo das Verhalten analysiert und die Spannung des Films leider ein wenig zerstört wird. Mit der Benennung der Krankheit verliert diese ein Stück weit ihre Faszination; unnötigerweise wird eine objektive Sichtweise von außen hineingetragen, schließlich versucht man gar, die Vergangenheit aufzurollen, um die Krankheit zu erklären.
Zwar hat “Das weiße Rauschen” an dieser Stelle noch nicht sein Pulver verschossen, denn es folgen noch einige starke Momente innerhalb einer Neuhippie-Kommune, die ihn aufnimmt und mit ihm ans spanische Meer fährt. Vermutungen werden laut, dass es sich um eine urbane Krankheit handelt und die Stimmen ein Großstadt-Symptom sind. Ein reizvoller Ansatz, der hier aufgegriffen wird.
Doch lässt man sich aus diesem Ansatz zu sehr zu einem philosophisch angehauchten Schlusspunkt hinreißen, der nicht nur die familiären und medizinischen Ursachenerklärungsversuche um eine weitere entmystifizierende Facette erweitert, sondern sich mehr als nötig von dem psychologischen Innenleben des Hauptdarstellers entfernt, um in eine Erkenntnisreise auszuarten, eine geistige Aushöhlung der Pointe von “Knockin’ on Heaven’s Door”. Dies wäre beim besten Willen nicht nötig gewesen in einem potenziellen Kammerspiel, das Daniel Brühl in seinem Apartment gefangen mühelos alleine hätte tragen können.