Nachdem „Blade“ bereits Pionierarbeit geleistet hatte, aber im Rahmen des reinen Actiongenres blieb, war „X-Men“ einer der Film, der maßgeblich für den folgenden Marvel-, Comic- und Superheldenboom sorgen sollte.
Im „X-Men“-Universum gibt es Mutanten, deren Herkunft niemand erklären kann. Sie sind wie normale Menschen, werden von normalen Menschen geboren, müssen aber eines Tages feststellen, dass sie sonderbare Fähigkeiten haben. Es gab sie schon zuvor, wie die Szenen um einen KZ-Insassen zeigt, der Kraft seines Willens ein Eisentor manipuliert. In der nahen Zukunft treten die Mutationen verstärkt auf, etwa bei einem jungen Mädchen (Anna Paquin), die ihrem Freund bei einem Kuss beinahe das Leben nimmt, als sie so seine Lebenskraft in sich aufnimmt. „X-Men“ beginnt gleich von Anfang an, das Thema des Superheldentums kritisch zu beleuchten. So auch in dieser Szene, die deutlich zeigt, dass derartige Kräfte nicht nur Segen, sondern auch Fluch sind.
Derweil diskutiert die Öffentlichkeit über das Mutantentum, welches brisante politische Ausmaße angenommen hat. Während viele eine friedliche Koexistenz von Menschen und Mutanten anstreben, fordern einige Politiker eine Meldepflicht für diese. Und einige Mutanten wie der mächtige Magneto (Ian McKellen) denken gar daran, sich mit Gewalt über die Menschen zu stellen – handelt es sich bei um doch um den Jungen aus der KZ-Szene, der menschliche Grausamkeit genauestens kennt. Schon allein das Szenario aus den Comics hebt die „X-Men“ von den meisten Superhelden ab, bei denen die Öffentlichkeit keinen Schimmer hat, woher ihre Kraft kommen könnte und oft auch deren Identität besser verborgen ist – eine Option, die nicht allen Mutanten offensteht.
Derweil trifft die junge Frau vom Anfang, die sich inzwischen Rogue nennt, auf ihrer Flucht James Logan (Hugh Jackman) alias Wolverine. Der einzelgängerische Mutant nimmt sie mit, als sie von Magnetos Schergen überfallen werden. Lediglich durch das Eingreifen der „X-Men“, einer Truppe freundlicher Mutanten unter der Leitung von Professor Charles Xavier (Patrick Stewart) können sie gerettet werden. Der Professor nimmt sie in seinem Internat für Mutanten auf – doch der Kampf gegen Magnetos finstere Pläne hat erst begonnen...
„X-Men“ gehört zu jenen Comic-Verfilmungen, die sowohl einen temporeichen Unterhaltungsfilm abgeben, aber sich auf zweiter Ebene auch mit alltäglichen Problemen im metaphorischen Gewand beschäftien. Die Diskriminierung und der Rassismus den Mutanten gegenüber ist auch nur eine geschickt verpackte Parabel auf derartige Dinge in unserer Zeit; die Tatsache, dass das Ganze kind- bzw. jugendgerecht verpackt ist, damit auch schon jüngere Semester über derartige Probleme nachdenken, ist ebenfalls ein geschickter Schachzug. So ist der Film um Ambivalenz bemüht: Magneto und Charles repräsentieren zwei unterschiedliche Ansätze des Kampfes für Anerkennung der Mutanten, wobei jeder von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt ist. Magneto hat den härteren Lebensweg beschritten, legt aber gleichzeitig auch eine gewaltige Hybris an den Tag, da er die Mutanten als nächste Entwicklungsstufe der Evolution sieht und sich daher im Recht glaubt, wenn er mit Gewalt gegen die Normalmenschen vorgeht.
Diese Überlegungen verpackt Bryan Singer in einen flott erzählten Mainplot, wobei „X-Men“ im Vergleich zu vergleichbaren Superheldenfilmen überraschend kompakt, dicht und kurz wirkt: Gerade einmal 91 Minuten zuzüglich Abspann dauert der Initiationsfilm, der die das Figureninventar vorstellt und gleichzeitig noch von einem ersten Entscheidungskampf zwischen den X-Men-Truppe und Magnetos Gruppering erzählt. Dass „X-Men“ seine Charaktere dabei nicht als reine fiese Schießbudenfiguren porträtiert, hilft dabei Spannung aufzubauen und den Zuschauer zu involvieren, außerdem begeht Singer seinen Film mit genüg auflockernden Witzen und coolen Sprüchen, die nie forciert oder albern klingen, um das Ganze aufzulockern und die kostümierte Truppe nicht unfreiwillig komisch wirken lässt. Wolverine kommentiert beispielsweise die Namensgebung der Mutanten gehässig oder wenn Cyclops ihn fragt, ob er lieber gelbes Spandex anstelle der X-Men-Uniform anziehen würde, dann spielt das auf Wolverines Gewandung in den Comics an.
In den Subplots legt „X-Men“ dann auch das Potential für Nachfolgefilme an: Wolverines geheimnisvolle Vergangenheit, an die er sich nicht erinnern kann, die ihn aber durch Flashbacks im Traum heimsucht, das Mutanteninternat, von den man nur Ausschnitte sieht, der politische Streit um die Meldepflicht, der am Ende des Films noch nicht gelöst ist usw. Dass Singer all das in der verhältnismäßig kurzen Laufzeit des Films bewältigt, ist ihm, seinem Drehbuchautoren David Hayter (der in „Guyver – Dark Hero“ selbst mal einen solchen spielte) und „X-Men“ anzurechnen, gleichzeitig sorgt das Kompakte des Films für die eine oder andere Unsauberkeit: Dass Wolverine innerhalb weniger Tage zum Konkurrenten von Cyclops (James Marsden) in Jean Greys (Famke Janssens) Gunst wird, wirkt wenig einleuchtend, auch sonst wirkt manche Entwicklung etwas zu gehetzt, aber damals war der Erfolg des Films noch nicht zu abzusehen, nachdem andere Superheldenfilme wie „Batman & Robin“ oder „Spawn“ kommerzielle Bruchlandungen für ihre Studios waren.
In Sachen Schauwerte kann „X-Men“ zudem auch noch eine gehörige Portion an Action und FX auffahren. Zwischen den Mutanten kommt es zu Kämpfen, bei denen die jeweiligen Kräfte der Kontrahenten eine Rolle spielen, doch „X-Men“ arbeitet erfreulicherweise mit einer Mischung aus Computertricks und handgemachten Stuntwork, welches die Actionszenen erfreulich dynamisch wirken lässt. Das genüsslich ausgespielte Highlight des Films ist der Fight Wolverine vs. Mystique, in dem sich krallenbewehrte Wüterich und die Gestaltwandlerin in einem famos choreographierten Konfrontation beharken. Auch die Spezialeffekte brauchen sich nicht zu verstecken, denn trotz ihrer Vielzahl und CGI-Herkunft fügen sie sich prima in den Film ein ohne künstlich auszusehen, woran wieder deutlich wird wie gut Singer die Balance aus Animierten und Handgemachten hinbekommt, denn schließlich kann man vieles in der Welt der X-Men nicht ohne Kollege Computer überzeugend kreieren, man muss aber eben auch nicht alles mit dem PC erschaffen.
Ein weiterer Trumpf des Films ist seine ausgesprochen überzeugende Besetzung. Mit Patrick Stewart und Ian McKellen gibt es hier zwei Charakterdarsteller zu sehen, die als Leader der beiden Fraktionen zurückhaltend ihr Charisma ausspielen können, dabei aber auch der jungen Garde ihren Raum lassen. Hugh Jackman als kampfstarker, zynischer Einzelgänger ist klar das Highlight und bekommt vom Drehbuch großzügig die besten Szenen spendiert, aber auch das recht prominente Ensemble kann überzeugen: Famke Janssen als kühle Jean Grey Halle Berry als Storm und James Marsden als Cyclops sind Helden mit Profil, wenn auch weniger Ecken und Kanten als Wolverine, Anna Paquin gibt dem Film einen Coming-of-Age-Einschlag und darf als Identifikationsfigur für die jüngeren Zuschauer eine gelungene Performance abliefern, während in der unter den Schurken vor allem Rebecca Romijn-Stamos als Mystique zu punkten weiß, während Wrestler Tyler Mane und Ray „Darth Maul“ Park in erster Linie Präsenz den Actionszenen zeigen dürfen, das aber auch mit Erfolg tun.
„X-Men“ erweist sich als gelungener Superheldenintiationsfilm, der zum einen die Welt der Mutanten, ein großes Ensemble und die Konflikte des „X-Men“-Universums einführt, aber dennoch eine packende Geschichte zu erzählen weiß, in die sich die Subplots harmonisch einfügen. Aufgrund der relativ kurz bemessenen Laufzeit stottert der Motor zwar hier und da, ansonsten beweist „X-Men“ aber, dass Tiefgang und effektreiches, aber nicht überladenes Blockbusterkino sehr gut Hand in Hand gehen können.