Léolo (deutsch synchronisiert; 1992)
"Ich träume, also bin ich nicht! Ich träume, also bin ich nicht....verrückt!"
"Léolo" dürfte wohl an sehr vielen Cineasten im Laufe der Jahre vorbeigegangen sein, da wir hierzulande nie ein würdiges Video- oder DVD-Release verbuchen konnten. Lediglich Cine Plus und Die Galileo Medien AG veröffentlichten den Film im 1,33:1-Format in schlechter VHS-Qualität. Zudem entschieden sich nur wenige Kinos im Januar 1993 den von ProKino verlegten Film der breiten Öffentlichkeit vorzuführen. Angesichts der Tatsache, dass wir es hier mit einer wahren Perle des leider schon verstorbenen Regisseurs Jean-Claude Lauzons zu tun haben, ist es gar nicht so verwunderlich, den Film zu exorbitanten Goliathpreisen auf diversen Filmplattformen zu finden.
Der Film selber handelt von einer französischen (und denkbar gestörten) Einwandererfamilie in Montréal, in der sich der kleine Léolo in eine Fantasiewelt, die er anhand eines in Fresszetteln geführten Tagebuchs festhält, zurückzieht. In seinem Gedankengut (stets in anmutender Offstimme erzählt) stammt er von einer mit Spermien verseuchten Tomate aus Sizilien, die nach Kanada importiert wurde und durch einen Zufall in den Uterus seiner Mutter gelang. Sein Vater arbeitet in einer Fabrik, seine Mutter steht den ganzen Tag in der Küche, sein von Feigheit gezeichneter Bruder trainiert den ganzen Tag, sein Grossvater lässt sich von Léolos angebetetem Nachbarsmädchen die Zehennägel abkauen während seine Schwester unter dem Fußboden des Hauses Léolos Insektensammlung bewacht. Nur einem von den Grosseltern auferlegten Zwang unterliegen sie alle: Die wöchentliche Defäkation durch vom Vater verabreichte Abführmittel als gesundheitserhaltender Reinigungsprozess. Der pubertierende Léolo beschäftigt sich mit seiner aufkeimenden Sexualität und dem unnachgiebigen Willen an seinen Träumen festzuhalten um nicht dem seiner Familie innewohnenden Wahnsinn zu verfallen.
Auf schauspielerischer Ebene funktioniert das Ensemble ohne größere Einschnitte glänzend und die Austattung ist anhand des überschaubaren Budgets beachtlich detailreich. Die ungewöhnliche Kombination des Soundtracks (z.B. tibetische Gesänge, Loreena McKennitt), die eindringliche Erzählerstimme, die zumeist ruhige Kameraführung und die bunte Schar skurrilster Charaktere hatten eine wahrlich hypnotisierende Wirkung auf mich. Das Gefühlschaos, immer gleitend zwischen Freude, Trauer und Begeisterung, ließ mich noch Stunden nach dem Schauen des Films nicht mehr los.
Für dieses Kleinod vergebe ich gut und gerne:
9/10 Punkten