Die ersten Credits des Films nehmen die Richtung, die Godard konsequent durchhält, überdeutlich vorweg: "Jean Paul Belmondo [] et [] Anna Karina [] dans [] Pierrot le Fou [] un film de [] Jean Luc Godard", heißt es dort - doch die Wörter tauchen nur langsam auf: erst die a's, dann das B; alphabetisch geht es bis zu den u's weiter...
Das Ganze in seinen Einzelteilen zu präsentieren, die Komposition dieser Einzelteile zu zeigen - das ist das System Godards in "Pierrot le Fou" und etlicher Filme, die er später noch nachgereicht hat (Etwa in "Made in USA" (1966), "Deux ou trois choses que je sais d'elle" (1967), "1+1"(1968)).
Die Komposition wird auch in den ersten gesprochenen Worten des Films thematisiert: Belmondo liegt in der Badewanne, liest: "Velázquez hat in seinem 50. Lebensjahr eine neue Ausdrucksweise gefunden: Alle Dinge, die er malte, umgab er mit Luft und Dämmerung. Überraschend die Schatten und die Transparenz der Hintergründe, die farbigen Reflexe, die er zum unsichtbaren Mittelpunkt seiner Komposition machte. Er umfasste in der Welt nur noch die geheimnisvollen Veränderungen; Veränderungen, die Formen und Töne [Farbtöne] einander durchdringen lassen, in einem unaufhörlichen Fließen, bei dem kein Stoß, kein Ruck die Bewegung stört oder unterbricht. Der Raum allein regiert." In Belmondos Lesung fällt ein weiterer entscheidender Satz: "Die Welt um ihn [Velázquez] herum war trostlos."
Zwei Themen klingen darin an, die Godard verfolgen wird: Die Suche nach neuen Kompositionen, nach neuen Ordnungen (in der Kunst, wie im Denken und Handeln) auf der einen Seite, die Flucht vor der Trostlosigkeit des Lebens in die Kunst (die bei Godard freilich auch immer das Leben selbst beeinflusst: die Flucht ist also kein Rückzug, die Kunst kein l'art pour l'art.)
Und während Belmondo sein langes Zitat anstimmt, gelten die ersten Bilder nicht seinem sprechenden Körper, sondern einem Tennisplatz, einem Buchhandel, den er durchstöbert, einer Nachtansicht der Stadt. (Das Einfangen von Bildern, die keiner Dramaturgie folgen, sondern ein nicht-kausales Konzept vom Nebeneinander anstreben, wird im Film immer deutlicher hervortreten.) Erst dann sieht man ihn lesen, erst dann setzt [Achtung: Spoiler!] die eigentliche Handlung ein:
Ferdinand (Belmondo) schickt seine junge Tochter zu Bett, entsteigt der Wanne und lässt sich widerwillig von seiner Gattin zu einer Feier schleifen. Der dort herrschenden gähnenden Langeweile, dem Schwelgen in Luxus und Oberflächenreizen, in Werbezeilen und -plakaten, entflieht er bald und trifft daheim auf das Kindermädchen Marianne (Anna Karina): Sie - eine frühere Bekanntschaft Ferdinands - fährt er nachhause und mit ihr bricht er aus seinem geordneten Leben aus. Er verlässt Frau und Kind, tauscht seine Rolle als Ehebrecher bald auch gegen die Rolle eines Zahnrads im Getriebe des Waffenhandels, in den Marianne verwickelt ist, gegen die Rolle des Gangsters, des Mörders.
Marianne tauscht Ferdinands Namen gegen Pierrot aus - ein Anzeichen für sein neues, anderes Sein.
Dieses neue Sein ist ein widerspenstiges, ein Stürzen in die Liebelei, in die Befreiung von allen Pflichten und Geboten: das Liebespaar entledigt sich dubioser Kontaktmänner und Geschäftspartner Mariannes, flieht, überfällt eine Tankstelle, lässt sein Geld verbrennen, raubt ein Auto, setzt dieses ins Wasser, lebt auf einer paradiesischen Insel, lebt von der Kunst und mit der Kunst, hasst sich, liebt sich, trennt sich, findet sich wieder. Die Hassliebe nimmt immer weiter zu, am Ende erschießt Pierrot Marianne, die ihn betrogen hat und sprengt sich nach ihrem Ableben in die Luft - bzw. überlegt er es sich in der letzten Sekunde anders, kann die brennende Lunte der Dynamitstangen - zweifach um seinen Kopf gewickelt - nicht mehr löschen.
Bereits der Originaltrailer gab vor, nicht zu wissen, ob ein Abenteuer- oder Liebesfilm angepriesen werden musste und pries einfach beides an. Die Road Movie Handlung, die zwangsläufig etwas episodenhaftes hat, füllt diese Episoden auch mit Klischees und Stereotypen der Film- und Literaturgeschichte: der Gangsterfilm steht neben "Robinson Crusoe" und dem "Bonnie and Clyde" Mythos, Slapsticknummern weichen Musicaleinlagen, das Melodram wechselt sich mit dem Thriller ab.
Nahezu alles steht dabei in Anführungszeichen: von den eigestreuten Gemälden und Texten abgesehen, macht Godard durch Übertreibung oder Deplatziertheit auf den Charakter der Stereotype und Klischees aufmerksam. Jede Episode ist sich ihres Zitatcharakters, ihres Bereits-einmal-dagewesen-seins bewusst. Dieses Bewusstsein wirft die Frage auf, die in "Pierrot le Fou" eigentlich neben der bloß vordergründigen Handlung verfolgt wird: Wie kann überhaupt noch erzählt werden, wo doch alles schonmal gewesen ist? "Pierrot le Fou" ist Godards Beitrag zur Postmoderne, deren filmischen Vertretern er als Vorbild (selbst zum großen Teil ein bloß grübelndes Abziehbild) vorausgeht.
Godards Suche nach einer neuen Filmsprache findet ihre Entsprechung in Pierrots Suche nach einer neuen Existenz: dem tristen, trostlosen Leben in fester beruflicher wie familärer Einbindung, dem Leben, das sich an von der Werbung angepriesenen Gütern orientiert, entflieht Ferdinand/Pierrot ins Ungewisse - freilich ohne dabei Erfüllung zu finden. Mit der vorherigen Existenz nicht zufrieden, verzweifelt er nun an der neuen Existenz (bis zum Schluss, wo selbst der Entschluss zum Selbstmord sofort wieder bereut wird) - wie auch ein Irrer, der ihm am Hafen seine eigene Lebens- und Leidensgeschichte erzählt: Zeit seines Lebens verfolgte ihn das Lied, bei dem er unerwiderte Liebesgeständnisse begangen hat, ehe endlich eine Frau zusagte, seine Gattin wurde und das Lied nun von beiden Eheleuten regelmäßig genossen wurde - bis zum Erbrechen, denn nach Jahren entflieht er dann dem geregelten Eheleben mit genau diesem Lied im Ohr, das ihn nicht zufrieden lässt.
Mit keinem Zustand glücklich sein, sondern in jedem automatisch unglücklich werden - das ist auch die passende Beschreibung für Godards Filmsprache, die er beständig erweiterte, widerrief, ausbaute, austauschte.
In "Pierrot le Fou" tobt er sich in der Montage von Zitaten aus Film, Malerei, Musik und Literatur aus, bleibt aber trotz des innovativen Impetus den Vorgängern verhaftet: ob er extreme Farbfilter einsetzt oder Weitwinkelobjektive, ob er Außenaufnahmen mit arg künstlichen Studioaufnahmen mischt oder die Bild/Ton-Schere weitestmöglich aufreißt, ob er Belmondo den Kinozuschauer ansprechen oder die Kamera in Nebensächlichkeiten schwelgen lässt: die Komposition der Bauklötze aus Literatur und Film bleibt zwar originell, kommt um die nach wie vor vorhandenen, althergebrachten Bauklötze selbst nicht umhin.
Immer wieder taucht das Zusammensetzen von Elementen im Film direkt auf: In der blau gefärbten Episode der Feier zu Beginn beklagt Ferdinand/Pierrot die Unmöglichkeit, alle Wahrnehmungen zu einer Einheit zusammenzuführen; Marianne und Ferdinand/Pierrot erzählen ihre Geschichte bisweilen wechselseitig (sie ein Wort, er das folgende); oder sie übertönen sich als Kommentatoren aus dem Off gegenseitig um die Handlung jeweils anders fortzusetzen; oder sie führen einzelne Elemente auf Autoren der Literaturgeschichte zurück; oder Ferdinand/Pierrot fordert ein Erzählen, dass auf alles Konkrete verzichtet und bloß das abstrakte Dazwischen einfängt, weiß aber nicht, wie bzw. womit er beginnen soll. (Dem entspricht sein Wunsch, das Denken der Mitmenschen zu erleben, und nicht die daraus hervorgehenden Entäußerungen, in welche es für die Mitmenschen zersplittert ist.) Hier kann man Godard annäherungsweise tatsächlich ein Gelingen attestieren: Indem er auf verschiedene Formen der Wahrnehmung und der Abbildung verweist (auf die Abstraktion in der Nachrichtenvermittlung, auf die suggestiven Techniken der Werbung, auf die Macht der Einbildungskraft bei vermeintlich Geistesgestörten, auf die assoziative und nicht primär handlungsorientierte Sprache eines Joyce) und zudem verschiedene Medien (Malerei, Schrift, Sprache, Musik - in gewisser Hinsicht auch das Theater) und Zitate zur synästhetischen Wahrnehmung nebeneinanderstellt, rückt er Mechanismen der Kommunikation ins Blickfeld, die genau dieses Dazwischen ausfüllen. Doch kann er eben nicht nur das Dazwischen abbilden, sondern auch immer das Drumherum - eben die Werbung, die Nachrichten, die Schriftsteller, die Wahnsinnigen...
"Pierrot le Fou" ist wie viele Godards ein Werk des Nachdenkens, Zweifelns und Grübelns, das nach neuen Möglichkeiten des Films strebt, dabei aber nicht von dessen traditionellen Themen loskommen mag, die Samuel Fuller hier in einem Kurzauftritt als er selbst knapp und bündig unter "Emotions!" zusammenfasst. Dieses Scheitern-müssen wird dabei immer wieder angesprochen: indem Ferdinand/Pierrot als Alter Ego Godards über Kunst und Abbildung sinniert ohne Antworten zu finden; oder indem er ein neues Leben anstrebt, einerseits dem alten Leben aber wehmütig verhaftet ist und andererseits jeden neuen Zustand seinerseits bald wieder als veraltet erblicken muss.
Docht nicht bloß die beständige Reflexion über Zitieren und Erfinden unterscheidet "Pierrot le Fou" von einigen anderen späteren Zitatesammlungen, die kaum mehr als eine Hommage an ihre jeweiligen Vorbilder verfolgen. Godard präsentiert in diesem Film, der auf formaler Seite ganz ungebunden und willkürlich experimentiert, durchaus verbindliche Aussagen, die bisweilen Kernthemen seines Frühwerks bilden: etwa dass Konsumgüter nicht einfach bereichern, sondern einen auch fesseln und unfrei werden lassen.
Insgesamt eines der letzten romantischen Werke Godards, der in seiner Suche nach neuen Erzählmöglichkeiten zahlreiche Regisseure bis heute (etwa Tarantino, Greenaway) nachhaltig beeinflusst hat. Zugleich ist "Pierrot le Fou" aber auch selbstbewusster und nachdenklicher als viele Nachfolger, indem er das postmoderne Dilemma direkt anspricht und beständig weitere Fragen aufwirft: wie man sich selbst und die eigene Selbstinszenierung zu trennen vermag, inwieweit man sich den nächsten Mitmenschen überhaupt annähern kann...
Tatsächlich ist "Pierrot le Fou" (abwechselnd, nicht gleichzeitig) Liebesfilm und Abenteuerfilm, Gansterfilm, Thriller, Komödie, Muscial - wenn Godard die Genrerelemente hier auch eher in den Dienste ihrer eigenen Überwindung stellt: Eine sehnsüchtig zurückblickende Bestandaufnahme in Aufbruchsstimmung, in der das Schauen nach hinten mit dem Schreiten nach vorne beständig verbunden ist und die Kluft dazwischen das eigentliche Thema bildet.
9/10