Erschafft Kunst nur, oder zerstört sie auch?
Gerade für die Skulptur lässt sich das nicht so leicht beantworten, denn sie entsteht in einem subtraktiven Verfahren: Der Künstler entfernt Bestandteile, um aus etwas Grobem - ein Stück Holz etwa, oder ein Marmorblock - etwas Spezielles zu formen. Die Form entsteht durch das Abtragen von Substanz, rein technisch gesehen ein Akt der Zerstörung. Nur muss er nicht als solcher interpretiert werden.
“Môjuu” ist ein sensuell minimalistischer Film. Er versucht, möglichst viele Sinne auszusparen, entwirft ein tristes Ambiente, um den Aufmerksamkeitsfokus in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken.
Unter dem Vorwand einer Entführungsgeschichte entsteht ein triptychonales Kammerspiel um einen blinden Künstler, seine Mutter und sein Entführungsopfer. Die Handlung findet vorwiegend an einem Ort statt, in einem großen, kargen Atelier ohne Fenster. Die Wände bestehen aus dreidimensionalen Ansammlungen von Nasen, Mündern, Brüsten und Extremitäten, jeweils aufgehäuft zu einem surrealen Pulk, als würde man durch die Facettenaugen eines Insekts in das Gesicht eines Menschen schauen. In der Mitte liegt eine riesige Skulptur von einer flach auf dem Rücken liegenden, nackten Frau. Wände und Decken sind mattgrau, werden von Schatten verschlungen. Farbe und Beleuchtung haben in dieser Welt keinerlei Bedeutung. Nur Wölbungen und Formen bestimmen die Bedeutungen in dieser Kammer.
Yasuzo Masumura macht den Betrachter des Szenarios blind, indem er der visuellen Gestaltung der Räumlichkeiten einfach ihren Ausdruck nimmt. Der Künstler ist blind und der Regisseur möchte, dass der Zuschauer für diese eineinhalb Stunden ebenso das Augenlicht verliert und sein Werk eher betastet als ansieht.
Auf inhaltlicher Ebene entwickelt sich zunächst einmal eine fast gewöhnlich zu nennende Entführungsgeschichte, was in Anbetracht der Ungewöhnlichkeit der Bebilderung gewissermaßen ein Paradoxon darstellt. Das Verhalten zwischen Täter und Opfer folgt allen Konventionen. Aber schon bei der sinn- und ziellosen Flucht rund um die große Skulptur in der Raummitte, eine Reaktion des noch verstörten Entführungsopfers, die man erwarten konnte, entwickelt der Film eine zweite Ebene neben dem gewöhnlichen Ablauf eines Entführungsthrillers. Die statische, ständig aber den Ort wechselnde Kamera legt die Beobachtung darauf, wie der Mann und die Frau unter dem Vorwand der Flucht einen Berührungstanz ablegen. Symbolisch wird die Frauenskulptur während des Staffellaufs überall berührt. Die verängstigte Aki klettert das gewinkelte Bein hinauf, lässt sich in die Bauchhöhlung fallen und stützt sich am Brustansatz ab, ihr Verfolger immer auf den Fersen. Sie lässt sich in den Schambereich abgleiten und umfasst den Kniewinkel, um im Uhrzeigersinn um die Skulptur herumzulaufen - bis die redundante Hetzjagd wieder in der Bauchhöhlung endet und der blinde Künstler endlich das fleischliche Objekt seiner Begierde selbst zu fassen bekommt.
Obwohl das Dreierverhältnis zwischen ihm, seiner Liebsten und seiner Mutter schmerzlich klischeehafte Züge annimmt, die durch ödipale Tendenzen und das Stockholm-Syndrom (die Entwicklung einer Zuneigung des Opfers zum Täter) noch weiter verkompliziert wird, baut sich parallel spürbar eine Dramaturgie auf, die viel tiefer geht, als man dies im ersten Gedanken annehmen würde. Erst in der letzten Viertelstunde scheint sich die Inszenierung von ihrer belanglos erscheinenden Lethargie zu befreien, denn erst hier zieht der Wolf seinen Schafspelz ab und konfrontiert mit einer düsteren Welt aus sadomasochistisch zugefügtem Schmerz, der dem subtraktiven Entstehungsvorgang einer Skulptur ein lebendiges Gesicht und der Skulptur selbst einen eigenen Geist gibt. Die Frage nach der Zerstörung oder Erschaffung von Kunst durch Subtraktion wird in eindringlicher Weise beantwortet.
“Môjuu” gibt sich konsequentermaßen nicht der grafischen Gewalt hin - wie Beleuchtung und Ausstattung bestimmen, darf es auch keine hellen Blutfontänen zu sehen geben, die wie aus einem Königsbrunnen sprudeln und den Tod ästhetisieren. Das Geräusch von sich scheidenden Sehnen und brechendem Knorpel mit lustvollen Schreien muss genügen, um eine Vorstellung von dem Gefühl zu vermitteln, wenn die taktile Wahrnehmung den Wegfall anderer Sinne durch Intensivierung kompensieren muss.
Es ist mehr als die reine Zuneigungsbekundung eines Entführungsopfers, das Mitleid mit seinem Täter entwickelt; vielmehr ist es die Geschichte von der Erfüllung durch die Erkenntnis davon, dass das Augenscheinliche, das direkt mit dem Auge Erfassbare nurmehr oberflächlich erscheint im Angesicht dessen, was Berührung und Schmerz zu entfesseln imstande sind - mündend in der Selbstzerstörung. Masumuras Werk ist unangenehm und trist, die meiste Zeit vielleicht gar schwer zu konsumieren. Die Geschichte erscheint im Ansatz zu gewöhnlich, um zu fesseln, die Dialoge entwickeln nur zwischenzeitlich Qualität und werden immer wieder durch Ausrutscher in ihrer Wirkung gebrochen. Dennoch läuft auf der Nebenspur etwas ab, das sich in einem emotional brutalen Finale entlädt, und plötzlich wird rückwirkend alles klar und deutlich.