Review

Wahrscheinlich ist es auf das Prädikat "europäischer Autorenfilm der 60er" zurückzuführen, dass der durchschnittliche Filmliebhaber nur wenig Notiz von diesem Werk des italienisch-stämmigen Regiegenies Michelangelo Antonioni nimmt - zumindest liegt dieser Schluss aufgrund der doch überschaubaren Anzahl an Reviews hier nahe. Sollte dies der Fall sein, müssen wir hier gleich mal mit ein paar Klischees aufräumen: Nein, Zabriskie Point ist kein langatmiger Dialogfilm, der ein diskussionsfreudiges Manifest der 68er-Generation sein will. Der Film hat auch keinen übermäßigen intellektuellen Anspruch (wenn man grob über den damaligen gesellschaftlichen Wandel Bescheid weiß, steigt der Genuss natürlich merklich) oder wäre besonders schwierig zu interpretieren oder gar kryptisch. Vielmehr verbindet Zabriskie Point seine gesellschaftliche Relevanz, nämlich die Rechtfertigung und Hinterfragung der 68er mit unvergleichlichen Regie- und Kamera-Kabinettstückchen, die einem die Augen aus dem Kopf schießen lassen und verdeutlichen, welche ideenlose Armut im heutigen Mainstreamkino herrscht. Das Ganze ist eingebettet in eine Liebesgeschichte - selbstverständlich ist der Übergang zwischen diesen drei Bestandteilen fließend.

Flucht ist ein Hauptmotiv des Films - Mark und Daria fliehen aus der Gesellschaft - er, weil er muss (er wird wegen Mord an einem Polizisten verfolgt - zu Recht?), sie, weil sie aus dem Berufsalltag entfliehen will - hier gibt es keine Chance auf Selbstverwirklichung. In der Wüste von Kalifornien - am Zabriskie Point - kreuzen sich zufällig ihre Wege und sie verlieben sich, fern von jeder Zivilisation, frei von allen Zwängen (siehe Marks übermütige Schreie, als er den Sanddünen herumtollt). Hier eröffnen sich Möglichkeiten, die in urbaner Umgebung undenkbar wären - z. B. das ständige Necken Marks gegenüber Daria, die mit ihrem Auto auf der Straße durch die Wüste fährt. Mark stößt mit seinem Klein-Flugzeug immer wieder zu ihr hinab und rauscht knapp über das Auto hinweg. Antonioni nimmt sich Zeit, diese Szene zu inszenieren und das ist auch gut so - wir genießen jede Sekunde der atemberaubenden Luftaufnahmen vor einer fantastischen, mondähnlichen Landschaft - von Langeweile keine Spur. Die Sequenz erinnert nicht nur vom Inhalt sondern auch in ihrer Funktion an die Flugzeugattacke aus Hitchcocks DER UNSICHTBARE DRITTE - in diesem wie in jenem Film steht für ein paar Minuten die Handlung einfach still - wir erleben quasi einen kleinen Film im Film und kommen aus dem Staunen über die Virtuosität der Inszenierung nicht mehr heraus.

Der Zabriskie Point, mit seinem Abhang von der Straße hinunter in die Sanddünen, steht auch für den point of no return - die Protagonisten wollen der amerikanischen Gesellschaft endgültig den Rücken zukehren und ihre eigene Vision von Leben verwirklichen. Antonioni gelingt hier meiner Meinung nach eine radikale Kritik an einer Gesellschaft, die jegliche Selbstverwirklichung im Keim erstickt. Wie dumm und leichtgläubig die Menschen dann werden, erleben wir auf witzige Weise, als ein Student, der auf der Polizeiwache seine Personalien angeben soll, dem Beamten weismachen kann er heiße Carl Marx.

Den sprichwörtlichen Höhepunkt erreichen wir dann in der zweiten visuellen Glanztat - eine Liebesszene in den Sanddünen zwischen den Protagonisten, von der aus die Kamera zurückfährt und wir die gesamte Hügellandschaft sehen - übersät mit Paaren die unter einem Stakkato-Schnittgewitter eine regelrechte Sexorgie veranstalten, ohne dass Antonioni je ins Pornografisch-Selbstzweckhafte abrutschen würde. Die Inszenierung zeigt eindeutig das Artifizielle in dieser Handlung - sie ist eine Vermischung aus Halluzination und Realität, ein Motiv, das einem schon in BLOW-UP Kopfzerbrechen bereitete. Ich denke, Antonioni will diese Bilder als einen Akt der freien Liebe als Teil der Befreiung aus einem verkrusteten System verstanden wissen.

Schon bald wird klar, dass die selbstgewählte Isolation nicht ewig dauern kann - die auftauchenden Camper und die Polizeistreife deuten dies bereits an. Die Zivilisation dringt in das Wüstengebiet vor, was am Ende mit der nagelneuen Hotelanlage mitten in der Wüste manifestiert wird. Mark und Daria müssen zurück, doch im Unterschied zu ihr kann er nicht mehr - zu sehr hat er sich bereits losgesagt (das wird bereits an seinen Aussagen in der Diskussionsrunde zu Beginn deutlich, wenn er sogar den Tod für sein Handeln in Kauf nehme würde). Er muss zwangsläufig und mit aller Konsequenz scheitern. Ob dies an seiner utopischen Weltsicht oder den veralteten Denkstrukturen seiner Mitmenschen liegt, lässt Antonioni bewusst offen.
Darias Flucht war ohne Zwang, sie kehrt sogar zu ihrem Arbeitgeber zurück. Dort bekommt sie die üblen Auswirkungen eines hemmungslosen Kapitalismus zu spüren, doch dank Mark ist sie stark genug inneren Widerstand zu leisten. Wie Antonioni dies visualisiert, gehört für mich zu den beeindruckendsten und schockierendsten Erlebnissen meiner "Filmlaufbahn":
Wie schon in BLOW-UP schlüpfen wir auch hier in die innere Wahrnehmung einer Person. Was in dem Generationsportrait von 1966 das Geräusch des imaginären Tennisballs war, wird hier um ein Vielfaches potenziert - vor ihrem geistigen Auge wird das Wüstenhotel durch eine der wohl spektaulärsten Explosionen der Filmgeschichte zerstört. Und das nicht 1-mal ... sondern bestimmt 10-mal hintereinander! Antonioni dehnt die Zeit zunächst durch zahlreiche Wiederholungen des Vorgangs, wobei wir die Explosion aus einer immer näheren Perspektive betrachten (angeblich ist dabei fast die Hälfte der Kameras zerstört worden ...). Einmal mehr vermischt der italienische Regisseur hier Wirklichkeit und Einbildung. Die dann folgende Zeitlupen-Bilderorgie, die uns die Zerstörung typischer Gegenstände einer übersättigten Wohlstandsgesellschaft zeigt, verschmilzt mit der perfekt untermalenden Musik von PINK FLOYD zu einem wahnwitzigen, psychedelischen Fiebertraum, den man (wie das Finale von Kubricks 2001) als Visualisierung der Drogenkultur der Endsechziger begreifen kann. Da werden Fernsehgeräte, Sonnenschirme und Kühlschränke samt Inhalt minutenlang durch die Luft gewirbelt und zerfetzt - eine ungebremste und doch hochästhetische Entladung Darias Wut auf das "alles verschlingende Establishment". Für solche zeitlosen Momente wurde das Kino - und vor allem das Widescreenformat - erfunden.Dadurch übertrifft Antonioni auf einen Schlag alle "moderen" Actionregisseure, die es in ihrer überhasteten Videoclip-Ästhetik gar nicht mehr schaffen, eine Szene besonders spektakulär aussehen zu lassen - ihr ganzer Film ist ein einziger visueller Overkill an Attraktionen (Paradebeispiel gefällig? Der Langeweiler BAD BOYS II von Michael Bay!). Im Gegensatz dazu kann Antonioni sich hier voll auf den Überraschungsmoment verlassen, zumal man nach dem doch recht unspektakulären Ausklingen der Handlung gerade ein wenig enttäuscht sein wollte.

Fazit: Obwohl bei Manchem vielleicht nur die drei visuellen Highlights - die Flugsequenz, die Liebesszene und die Explosion der Hotelanlage - im Gedächtnis bleiben, funktioniert der Film als Gesamtwerk, der seine Aussagen durch seine berauschende Bilderkraft verstärkt. Antonioni war fasziniert von der Jugend der sechziger Jahre und setzte ihren Werten und Zielen ebenso wie ihrem Scheitern ein kongeniales Denkmal, das aber auch als zeitlose Parabel über Ausbruch aus einer Gesellschaft funktioniert. Eine konsequente Weiterentwicklung von BLOW-UP, die trotz ihres Anspruchs nicht zum Langeweiler mutiert, unvergessliche Bilder auf die Leinwand zaubert und einen grandiosen Soundtrack parat hält. Ein Meisterwerk ohnegleichen, vor dem EASY RIDER in die Knie gehen muss, obwohl Antonionis Film wahrscheinlich niemals die Bedeutung von Dennis Hoppers Startschuss für das Independentkino erreichen wird. Bleibt noch eine Frage: Warum wird in Deutschland jeder Schrott auf DVD veröffentlicht, nur nicht dieser Film???

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