The Countryman and the Cinematograph (1901) von Robert W. Paul
Uncle Josh At The Moving Picture Show (1902) von Edwin S. Porter
Le Mystère des roches de Kador (1912) von Leonce Perret
Portret (1915) von Wladyslaw Starewicz
Bewegte Bilder, bewegende Bilder, lebende Bilder; oder Die Einflussnahme des Films im Film auf Letzteren [zu Beginn des 20. Jahrhunderts]
Film um Film schreitet die Filmgeschichte voran; und das Um bezeichnet hierbei vielleicht weniger die bloße kontinuierliche Abfolge, als vielmehr das kreis- oder kugelförmige Umgeben eines Inneren durch ein Äußeres, soll heißen: eine Filmgeneration legt sich um eine andere Filmgeneration wie ein Mantel und wird von einer weiteren Filmgeneration ummantelt werden... die Filmgeschichte ist kein bloßes Nacheinander einzelner Werke, sondern ein beständiges Aufeinander-Aufbauen, eine beständige Bezugnahme und Beeinflussung von Filmen durch Filme, womit eine immer weiter anwachsende Bandbreite an inszenatorischen & dramaturgischen Möglichkeiten einhergeht: Filme, zumindest gute Filme, blicken (bewusst oder unbewusst) zurück auf die Geschichte des Films, lernen aus ihr, ziehen ihre Schlüsse aus ihr und enthalten ihre Vor-Bilder in sich. Ein Publikum stößt beim Anblick aktueller Filme stets nur auf eine Außenhülle, durch welche es sich dann schichtweise zu einem Innersten, zu einem Ursprung, um welchen sich nach & nach die Filmgeschichte schichtweise gelegt hat, graben kann.
Diese Grabungen präsentieren manche Filme gleich mit, wobei ihnen allerdings Grenzen gesetzt sind: Fortsetzungen und Remakes etwa lassen ihre Vorbilder über ähnliche Handlungen oder Figuren noch recht deutlich erkennen, über ähnliche Motive oder Melodien, über direkte Zitat in Ton oder Bild oder Schrift lassen sich ebenfalls die Quellen eines Films in ihm selbst zurückverfolgen. Aber wenn es beispielsweise um die Entwicklung der Filmsprache geht oder um die Entstehung verschiedener Stile, dann sind es allenfalls noch Essay- oder Dokumentarfilme, die ihre Vor-Bilder, ihre Vorgeschichte aufdecken können.
Dennoch haben sich - nicht erst seit der Postmoderne - Filme schon früh in den Kontext anderer Filme gestellt; und dabei haben sie nach & nach auch etwas über sich selbst - bzw. etwas über Film an sich! - erfahren.
Gleich zu Beginn der Filmgeschichte war es beispielsweise Usus, die Handlung erfolgreicher Filme sofort zu kopieren: Der begossene Gärtner aus der Lumiere-Produktion "L'arroseur arrosé" (1895) bildet etwa auch in "Arroseur et arrosé" (1896) oder "L'arroseur arrosé" (1897) die Hauptattraktion. Der blöde Witz von Küssen in dunklen Zugtunneln durchzieht mehr oder weniger geistreich die gleichnamigen Filme "The Kiss in the Tunnel" (1899) & "The Kiss in the Tunnel" (1899), sowie die Titel "Une idylle sous un tunnel" (1901), "Love in a Railroad Train" (1903) und "What Happened in the Tunnel" (1903)... Und Méliès' aufwendiger "Le voyage dans la lune" (1902) taucht einige Jahre später in variierter Form als de Chomóns "Excursion dans la lune" (1908) wieder auf. Anders als heutzutage war damals die Grenze zwischen Plagiat und Remake (und der Neuverfilmung im Fall von Verfilmungen literarischer Stoffe oder gängiger Mythen) nicht zu ziehen, die Wiederholung eines bewährten Rezepts war eher eine Selbstverständlichkeit. Und schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts gibt es die ersten dokumentarischen Straßenszenen, welche größere Kinos porträtieren - bald gefolgt von frühen Filmen über das Filmemachen wie in "Alice Guy Films a 'Phonoscène' in the Studio at Buttes-Chaumont, Paris" (1905). In Filmen wie Méliès' "Le Chevalier mystère" (1899) oder Blacktons "Humorous Phases of Funny Faces" (1906) wird die Belebung gezeichneter Bilder präsentiert, der Sprung vom Gemälde oder der Zeichnung zum (Animations-)Film: eine unterschwellige Selbstreflexion des frühen Kinos, das seine eigene Medialität erkundet und sich dabei von früheren Medien abgrenzt. Und in "La Lanterne magique" (1903) präsentiert Méliès schließlich sogar die Vorführung einer Laterna Magica, der vermutlich prominentesten Film-Vorläuferin des 17., 18. und 19. Jahrhunderts...
Und dann gibt es noch jene frühen Filme, in denen Kinobesuche & Filmvorführungen zum zentralen Thema geraten - frühe Film im Film-Beispiele, in denen sich filmische Sebstreflexion am deutlichsten präsentiert: "The Countryman and the Cinematograph" beispielsweise, der 1901 zu einem der ersten populären Bewegtbilder des Kinos zurückkehrt und die Aufführung von "L'arrivée d'un train à La Ciotat" (1896) in Erinnerung ruft. "L'arrivée d'un train à La Ciotat" löste - so will es eine sich hartnäckig haltende Anekdote! - bei seinen ersten Aufführungen Panik unter den Besucher(inne)n aus, welche - mit Bewegtbildern nicht erfahren - auf den herannahenden Zug reagierten, indem sie vor ihm zurückwichen. "The Countryman and the Cinematograph" - auch bekannt als "The Countryman's First Sight of the Animated Pictures" - präsentiert nun einen Zuschauer, der über seinen Strohhut und seine restliche Bekleidung als etwas rückständiges, einfältiges Landei ausgewiesen wird und der sich mit großer Selbstsicherheit vor eine Kinoleinwand wagt, auf welcher eine Aufnahme von Tanzschritten einer jungen Dame abläuft, welche den Zuschauer letztlich ebenfalls zu einem kleinen Tänzchen bewegt. Doch sein Tanz wird unterbrochen vom herannahenden Zug, der hinter ihm bereits die Leinwand füllt (aber nicht aus "L'arrivée d'un train à La Ciotat" stammt, sondern aus einem der vielen Nachzügler). Die Heiterkeit des Mannes schlägt in Panik um, als er - sich umwendend - die vermeintliche Gefahr registriert, zumal er dort steht, wohin die mit dem Bildfeld (des Films im Film) endenden Gleise zu streben scheinen. Ein paar abwehrende Handbewegungen später ergreift der Mann die Flucht (und verschwindet aus dem Bildfeld des Films, als der Zug seinerseits damit beginnt, im Off des Films im Film zu verschwinden). Ein dritter Film schmückt nun die Leinwand; eine harmlose Schäkerei, die den zurückkehrenden Zuschauer zu empören scheint, der sich vielleicht aber auch bloß als Rivale des flirtenden Mannes begreift und ihm die Schau zu stehlen gedenkt (so wie er auch den Filmen selbst mit seinem polterigen Auftreten die Schau stiehlt). "The Countryman and the Cinematograph" ist nicht mehr vollständig erhalten und neben dem Beginn fehlt auch der größte Teil des Schlusses, in welchem der Zuschauer als empörter Zensor das öffentliche Ärgernis des vermeintlich öffentlichen Kusses stoppen will (oder als eifersüchtiger Rivale des projizierten Mannes das projizierte Mädchen haben will), um bei dem Versuch, das Paar zu trennen, lediglich die Leinwand herabzureißen.[1]
Auch "The Countryman and the Cinematograph" blieb nicht ohne Nachzügler: So folgte auf Robert W. Pauls originelles Spott-Filmchen dann auch Edwin S. Porters "Uncle Josh at the Moving Picture Show" (als Bestandteil seiner Uncle Josh-Reihe). "Uncle Josh at the Moving Picture Show" ist im Gegensatz zu seinem Vor-Bild bis heute vollständig erhalten geblieben; das Herunterreißen der Leinwand - das Jean-Luc Godard Jahre später in "Les carabiniers" (1963) zitieren sollte - und der anschließende Zweikampf mit einem Kino-Mitarbeiter sind in dieser Version also nach wie vor zu sehen. Porters Version weicht nur minimal von seiner Vorlage ab: hier liegt als Zug-Film nämlich "Black Diamond Express" (1896) zugrunde, in welchem der herannahende Zug in eine Kurve fährt und somit nicht in den Zuschauersaal zu rasen scheint; dementsprechend rennt Uncle Josh-Star Charles Manley auch nicht sogleich davon, sondern hält in einer sonderbaren Mischung aus Herantasten und Zurückweichen einen 'gesunden' Abstand zum Abbild des Zuges, welcher ihn erst dann auf einen Balkon des Theaters fliehen lässt (welchen Uncle Josh als eher unhöflicher Zuschauer kurz zuvor verlassen hatte), als er auf der großen Leinwand volle Lebensgröße erreicht. Auch dieser Balkon ist eine Ergänzung, die sich im Vor-Bild nicht befindet - und der Grund, weshalb man Porters Version zweifelsfrei die minimal spannendere Kulisse attestieren kann. Schlampiger geraten dagegen die Momente, in denen der Zuschauer vor die Leinwand tritt: In beiden Filmen wird der Film im Film nämlich per Doppelbelichtung in Szene gesetzt - und bei Porter zeigt sich das überdeutlich, wenn die Hauptfigur vor der Leinwand überaus transparent & blass erscheint und weniger zu erkennen ist, als der gerade ablaufende Film. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Porter jedem der drei Filme im Film eine eigene Titeleinblendung zugesteht. (Letztlich halten sich Vorzüge und Nachteile beider Versionen die Waage - Pauls Version ist als Original freilich die originellere Version, dafür hat Porters Version den Vorzug, noch immer in voller Länge erhältlich zu sein.)
Es verwundert vielleicht nicht, dass Godard in "Les carabiniers" - als sein Spiel mit der Filmgeschichte etwas konzentrierter und systematischer zu werden begann - nicht bloß eine Hommage an eines der ersten populären Bilder des Kinos (an den einfahrenden Zug!) untergebracht hat, sondern auch eine Hommage an die ein, zwei ersten Film im Film-Beispiele der Filmgeschichte. Als er dann mit seiner Histoire(s) du cinéma-Reihe beschäftigt war, hatte er sich längst zu einem der größten Spieler mit den Eindrücken der Filmgeschichte entwickelte - und in "Histoire(s) du cinéma: Seul le cinéma" (1997) taucht dann eine Szene aus einem der ersten komplexen (beinahe-)Langfilme auf, in welchen der Einsatz von Filmen im Film eine ausgesprochen komplexe Funktion erfüllte. Leonce Perrets "Le Mystère des roches de Kador" ist dort in stockender Zeitlupe - nach einem Knalleffekt und pünktlich zur Einblendung "Seul le cinéma" - zu sehen (mit einer Szene, auf die noch einzugehen sein wird), ein kriminalistischer Dreiviertelstünder irgendwo zwischen Shakespeares "Hamlet" (1603) und psychoanalytischer Sitzung...
"Le Mystère des roches de Kador" erzählt eine im Grunde schlichte Erbschleicherei-Geschichte, in welcher Perret, der Regisseur, zugleich die Rolle des Bösewichts Comte Fernand de Kéranic spielt: de Kéranic ist der Vormund der jungen Alleinerbin Suzanne, deren Erbe er bis zu ihrer Volljährigkeit zu verwalten hat. Natürlich will er letztlich das Geld für sich behalten und versucht daher zunächst, die Gunst der jungen Dame zu gewinnen - doch sein Verführungsversuch am Strand gleicht eher einem Übergriff, die Aussicht auf eine Ehe ist denkbar gering, zumal auch noch ein junger Mann ins Spiel kommt, der Suzanne begehrt und auch von ihr begehrt wird. Daher schiebt de Kéranic Suzanne ein Betäubungsmittel unter, nachdem er ihren Verehrer unter ihrem Namen herbeigelockt hat. Als dieser mit einem kleinen Ruderboot am Strand eintrifft, schießt de Kéranic ihn aus dem Hinterhalt an, derweil Suzanne längst in tiefen Schlaf gefallen ist und der kommenden Flut zum Opfer fallen soll. Doch der vermeintlich Tote schleppt - von de Kéranic nicht weiter beachtet - seine ohnmächtige Liebe mit letzter Kraft ins Ruderboot, in welchem er alsbald in Ohnmacht fällt, woraufhin die junge Dame mit ihrem angeschossenen Geliebten auf offenem Meer in Ufernähe erwacht - und angesichts dieser wenig erbaulichen Situation dem Wahnsinn verfällt. Doch man findet beide Personen schnell, der Verehrer lebt noch, weiß aber nicht, wer auf ihn geschossen hat - und Suzanne tobt & lacht und kann & will sich an nichts erinnern.
Doch der genesene Verehrer findet Hilfe in Gestalt des Psychologen Dr. Pierre Williams: Diesem ist klar, dass Suzanne ihr Trauma nochmals durchleben muss und gibt einen Amateurfilm in Auftrag, in welchem der Verehrer die Ereignisse nachzustellen hat, soweit sie ihm bekannt sind. Die Dreharbeiten bekommt das Publikum durchaus zu sehen, aber als Schlüsselszene fungiert natürlich die Vorführung des fertigen Films im letzten Drittel: Unter der Obhut des Psychologen wird Suzanne mit der verdrängten Katastrophe konfrontiert. Suzannes Gesicht (in Großaufnahme vor rabenschwarzem Hintergrund!) und eine Totale, welche die Frau vor dem Leinwandgeschehen im dunklen Vorführsaal präsentiert, wechseln einander ab. Als Suzanne erblickt, wie ihr Geliebter einen Körper in das Ruderboot schleift, um ihn vor der Flut zu retten und danach erschöpft einer Ohnmacht anheim zu fallen, setzt eine Genesung ein: ein Erkennen zunächst (der Kopf ruckt vor, die Hand bewegt sich, die Frau erhebt sich), dann ein Entsetzen (Zurückweichen vor der weißen Leinwand, ohnmächtig umkippen) und schließlich die Gesundung (Erwachen und Umarmen des Liebhabers). Und natürlich wird auch der Übeltäter noch anhand seiner Handschrift entlarvt & überführt.
Das Geheimnis der Felsen von Kador ist natürlich ein Geheimnis für die Figuren, derweil dem Publikum jederzeit alles voll & ganz ersichtlich ist. Dem Publikum muss nichts enthüllt werden, es weiß um die Beweggründe und das Vorgehen des Verbrechers: die Aufmerksamkeit des Films richtet sich vielmehr auf das Moment des Erkennens der Wahrheit, auf die Konfrontation mit der Wahrheit, die sich vor einer Leinwand abspielt. Das macht aus "Le Mystère des roches de Kador" einen ziemlich hitchcockschen Film; allerdings überzeugt hier weniger eine psychologisch glaubwürdige Charakterzeichnung - vielmehr bleibt diese ausgesprochen simpel und klischeebeladen! -, sondern eher die Thematisierung des Spielfilms. Für diesen macht Perret einen Anspruch geltend, den das Theater schon seit langem besaß: Auch das Filmpublikum kann von Filmen zur Identifikation eingeladen werden, kann eine Katharsis durchlaufen, kann sich selbst in der präsentierten Geschichte erkennen, seine Schlüsse ziehen und etwas mitnehmen. Um 1912, als sensible, detaillierte Charakterzeichnungen wie komplexe Dramaturgien im Spielfilm allenfalls selten und auch nur unausgereift anzutreffen waren - während zugleich aber die Scènes de la vie telle qu'elle est und der Film d'art samt ihren Besprechungen in der frühen Filmkritik (welche sich für die filmischen Möglichkeiten, Realismus und Symbolik darzubieten und mit ihrer Mise-en-scène große Kunstfertigkeit zu erlangen, stark machte) aufkamen -, erblickt Perret solch ein Potential im Film, welches "Le Mystère des roches de Kador" selbst zwar kaum entfaltet, aber über den Film im Film und dessen Rezeption thematisiert und als Möglichkeit künftiger Filme in Aussicht stellt.
Natürlich ist der Film im Film hier ein Produkt, das ganz und gar auf seine einzige Zuschauerin zugeschneidert worden ist, um in ihr etwas auszulösen. Aber während etwa im kurz zuvor entstandenen stop motion-Film "Mest kinematograficheskogo operatora" (1911) ein heimlich abgefilmter Ehebruch im Kino läuft, in welchem dann die betrogene Käfergattin auf den Seitensprung ihres Käfergattens reagiert - während dort also ebenfalls ein sehr persönlich zugeschnittener Film im Film abläuft, der aber mit Identifikation und Selbsterkenntnis zunächst kaum etwas zu tun hat und eher als enthüllendes Beweismittel im ungewöhnlichen Rahmen eines Kinosaals fungiert -, fordert der Film im Film bei Perret durchaus die Identifikation seiner Zuschauerin ein, die nicht nur enthüllt bekommt, was ihr während ihrer Ohnmacht am Strand einst entgangen ist, sondern zugleich mit einer Situation konfrontiert wird, die sie zuvor völlig verdrängt hat. Der Film kann vor Augen führen, woran man nicht zu denken gewagt hat. (Ein früher Filmklassiker, der solch einen Ansatz ein knappes Jahrzehnt später weiterdenkt, ist Arthur Robisons "Schatten - Eine nächtliche Halluzination" (1923)...)
Während der Countryman und Uncle Josh vom Film bloß bewegt worden sind, insofern sie das Gesehene halbwegs oder vollständig für bare Münze genommen haben und danach gegriffen haben oder davor geflohen sind, wird Perrets Suzanne vom Film bewegt, weil er in ihr eine Identifikation, einen Erkenntnisprozess und ein Begreifen auszulösen versteht. Die Großaufnahmen ihres schauenden Gesichtes sind geradezu verbindlich geworden für spätere Filme, in denen die Auswirkungen des Films auf ein Publikum Thema waren: in "Vivre sa vie: Film en douze tableaux" (1962) etwa, in "Play It Again, Sam" (1972), in "Angustia" (1987), in "Artaud Double Bill" (2008) oder in "Vous n'avez encore rien vu" (2012)... In Lynchs "Mulholland Dr." (2001) ist es dann wieder ein Bühnenraum, dessen Illusionen auf das Kino verweisen und dem er die Großaufnahmen seiner erkennenden Zuschauerin(nen) gegenüberstellt, ehe dann das böse Erwachen dieses tragischen Mystery-Thrillers folgt. Gutes Kino kann etwas mit einem anstellen, dessen war sich Perret 1912 bewusst, als er vom eher oberflächlichen, grob umrissenen Erzählkino des frühen, bisweilen recht primitiven Films wegrückte und sich den - allerorts im Entstehen begriffenen - Identifikationsportal bergenden Dramen der künstlerisch ambitionierten Filmkünstler zuwandte.
Aber auch Wladyslaw Starewicz, der schon mit "Mest kinematograficheskogo operatora" ein Film im Film-Lustspiel abgeliefert hatte, hat noch mit einer Gogol-Verfilmung zur - eher unfreiwilligen - filmischen Reflexion des Bewegtbildes beigetragen. "Portret" geht zurück auf Gogols gleichnamige, phantastische Novelle (1835/1842) und scheint mit ihrem Schwerpunkt des Spezialeffekts - für den stop motion-Pionier Starewicz ein vertrautes Feld! - eher einen Rückschritt in Sachen filmischer Selbstreflexion darzustellen, geht es hier doch um die seit Méliès populären bewegten Zeichnungen & Gemälde, nicht um die Bewegtbilder des Kino-Zeitalters. Aber zumindest vor dem Hintergrund des phantastischen Films scheint er als Schnittstelle zwischen dem althergebrachten unheimlichen Stoff belebter Gemälde (von "Die Bilder der Ahnen" (1805) über "The Oval Portrait" (1842), "The Picture of Dorian Gray" (1891) und "The Mezzotint" (1904) bis "Rose Madder" (1995) oder "Duma Key" (2008)) und dem metafilmischen Horrorfilm über lebende bzw. untote, spukende Filmfiguren (von "Ringu" (1998) bis "Sinister 2" (2015)) ein interessanter Beitrag zu sein.
"Portret" - einst eine knappe Dreiviertelstunde lang! - liegt leider nur noch als achtminütiges Fragment vor, welches allerdings die horribelsten Alptraumszenen des Stoffes enthält. Gogols gothic novel- und Schauerroman-geschulte Novelle erzählt in zwei Teilen vom titelgebenden Porträt eines dämonischen Wucherers, dessen Einfluss sowohl seinen Maler, als auch einen späteren Besitzer des Gemäldes - ebenfalls ein Maler! - verdirbt und ihre Ideale & Ambitionen in Gier & Neid umwandelt. Inwiefern Starewicz, der neben seinen stop motion-Filmen zu Beginn der 10er Jahre auch einige Verfilmungen russischer Weltliteratur hervorgebracht hat, Gogols beachtlich strukturierter Novelle gefolgt ist, scheint nicht mehr klar ersichtlich zu sein. Geblieben ist der Nachwelt das vergleichsweise kurze Fragment, in welchem der junge Maler bei einem Trödler das Porträt eines beunruhigend finster dreinblickenden Greises erwirbt und zu seiner Wohnung trägt. Dort ziert es die Wand hinter seiner Ruhestätte, in welcher sich der Mann von den Augen des Porträtierten verfolgt wähnt - zumal es nach seiner Reinigungsaktion noch viel lebendiger wirkt (und tatsächlich hat Starewicz es durch die Aufnahme eines Schauspielers ersetzt, als der Kamerablick auf das Gemälde kurzzeitig verstellt ist). Dieses Stieren des Greises plagt ihn derartig, dass er das Bild kurzerhand verhängt... doch kaum fällt er fiebrig und erschöpft ins Bett, da löst sich das Tuch vor dem Bildnis nach kurzem Schwarzbild in Wohlgefallen auf; eine erste Traumsequenz scheint zu beginnen. Der Maler erhebt sich entsetzt und geht auf das Gemälde zu: In Großaufnahme ist nun zu sehen, wie der Greis seine Augen bewegt, um den jungen Mann zu beäugen - selbst den Kopf legt er schief und beugt sich immer weiter in die Richtung des Mannes, der schier wahnsinnig wird vor Entsetzen. Schließlich erwacht er wieder in seinem Bett; das Gemälde ist noch verhängt. Kaum schläft er beruhigt wieder ein, setzt ein Schwarzbild später ein neuer Alptraum ein: erneut löst sich das Tuch auf und der unheimliche Greis entsteigt seinem Bilderrahmen, schreitet durch das Zimmer auf den (nicht mehr) Schlafenden zu und zählt dort seine Rubelstücke, die er in einem Beutel verwahrt. Einen Teil seines Vermögens lässt er fallen, der junge Mann bemerkt es, greift sich die Summe ungesehen und stellt sich wieder schlafend. Doch bevor der Greis wieder in sein Bild steigt, bemerkt er das Verschwinden der Summe; und als der junge Mann sich unbeobachtet während, kriecht der Alte hinter dem Bett hervor - panisches Entsetzen, dann ist auch dieser Alptraum vorbei (und das erbeutete Vermögen ist zunächst einmal verschwunden).
Damit endet das Fragment von "Portret", welches eindeutig den phantastischsten Aspekt der Novelle umsetzt. Und der Sprung vom Standbild zum Bewegtbild, welcher schon bei Pionieren wie Méliès auftaucht und als eine - wie bewusst oder unbewusst auch immer bewerkstelligte! - Reflexion über den Ursprung der Filmkunst aus (nicht nur, aber zum Großteil) der Malerei und der Fotografie begriffen werden kann, läuft bei Starewicz in zwei interessanten Variationen ab (welche ihren Ursprung freilich in den von Gogol beschriebenen Alpträumen haben).
Der erste Sprung macht aus dem Standbild ein Bewegtbild, vor welchem der Betrachter zurückweicht, als könne ein Bewegtbild ihm gefährlich werden (was natürlich verständlich ist, wenn man berücksichtigt, dass sich dort ein Gemälde bewegt, was allerdings so unverständlich ist wie das Zurückweichen von Uncle Josh oder dem Countryman vor dem ein- bzw. vorbeifahrenden Zug, wenn man rein formal beachtet, dass Starewicz tatsächlich ein Gemälde durch ein fotografisches Standbild und dieses durch ein filmisches Bewegtbild ersetzt.) Dieser erste Schrecken spiegelt also gewissermaßen die Unerfahrenheit des frühen Kinopublikums und dessen angebliche Panik wieder.
Der zweite Sprung schildert dann eine Metalepse, wie man sie etwa aus Woody Allens "The Purple Rose of Cairo" (1985) kennt: Figuren eines Films im Film entsteigen der Leinwand und agieren unter den Figuren des Films. Schon in Gérard Genettes Erzähltheorie zeitigt die Metalepse, die Figuren zwischen diegetischer und extradiegetischer Ebene wechseln lässt, mal eine komische, mal eine phantastische Wirkung. Bei Woody Allen war es zweifelsohne eine komische Wirkung, die es allerdings ganz ernst meinte: "The Purple Rose of Cairo" handelt als wunderbare Hommage an das klassische Hollywood und als tragikomische Kritik am klassischen Hollywood davon, wie Filme einen übermäßig bewegen können, indem ihr Illusionscharakter das wahre Leben überschattet. Eine phantastische Alternative ist im Horrorfilm zu sehen, wo das Heraustreten von Filmfiguren einen grauenerregenden Effekt hat: In "Ringu" und seinen Remakes und Sequels sucht einen der Leichnam eines Mädchens heim, wenn man ein Video betrachtet, das mit ihr zu tun hat - die Wiedergängerin treibt nicht bloß (unheimlich genug!) auf den Bildschirmen ihrer Opfer ihr Unwesen, sondern entsteigt ihnen sogar, um ihre Heimsuchung tödlich enden zu lassen. Und in "Sinister" samt Sequel stiftet der Dämon Bughuul, der in seinen Abbildern existiert, Kinder zum Morden an, um anschließend mit ihnen in jene Heimvideos zu steigen, die bei diesen Morden angefertigt werden und welchen er wieder entschlüpft, sobald jemand das Material nichtsahnend sichtet. Es sind mal mehr, mal weniger clevere Filme über Schaulust & Angstlust, in denen quasi die schon 1912 von Perret getroffene Feststellung, dass Filme etwas mit einem anstellen können, metaphorisch bebildert wird: Die Filmbilder suchen einen nicht mehr bloß im Geiste heim, sondern sie verfolgen einen ganz direkt und lassen einen nicht mehr los. Gerade der Horrorfilm hat sich auf solche Metalepsen eingeschossen, sind es doch die überrumpelnden, erschreckenden Schock-Bilder, die ein unvorbereitetes Publikum noch wochenlang verfolgen können.
"Portret", der eigentlich von einem lebenden Gemälde handelt, nimmt diese relativ junge Reflexion des Einwirkens der Filmbilder auf ein Publikum und ihres Weiterwirkens in den Zuschauer(inne)n vorweg - zeigt er doch trotz seines Gemälde-Themas auf formaler Ebene nicht anderes als ein filmisches Bewegtbild innerhalb eines Bilderrahmens, welches diesem Rahmen dann entsteigt. Der zweite Schreck des jungen Mannes spiegelt also nicht mehr die Unerfahrenheit eines frühen Filmpublikums wieder, sondern die Bewegtheit eines Publikums, welches von den Filmbildern überrumpelt oder überfordert worden und zum Spielball der (nachhallenden) visuellen Eindrücke geworden ist. (Und ruft man sich Erinnerung, dass zeitgleich (und ebenfalls in Russland) der gefeierte Yevgeni Bauer mit "Posle smerti" (1915) ein recht selbstreflexives, cleveres Werk über das Erinnern und die fotografische Abbildung geschaffen hat, so sollte man nicht vorschnell ausschließen, dass "Portret" ganz bewusst ein durchaus selbstbewusster Portätfilm der Bewegtbilder geworden ist.)
Das Denken der Bilder über sich selbst lässt sich letztlich weit zurückverfolgen und durchzieht schon die Werke der ersten zwanzig Jahre der Kino-Geschichte - deren Nachhall teilweise bis in die Neuen Wellen und teilweise bis in den gegenwärtigen Mainstream-Film reicht.
7,5/10 für Pauls fragmentarisch erhaltenes Pionierwerk, 7,5/10 für Porters geringfügig variierte Version, 9/10 für Perrets erstaunlich fortschrittliches, psychologisierendes Kriminalstück über die Macht des Films und 8/10 für Starewcizs horriblen, fragmentarisch erhaltenen Schauerfilm über die Macht der Heimsuchung lebender und bewegter Bilder.
1.) Ob es Porter um einen Akt der Empörung oder um einen Akt der Eifersucht geht, ist aufgrund des nicht erhaltenen Ende kaum in Erfahrung zu bringen. Meist wird von der erstgenannten Alternative ausgegangen, in Edwin S. Porters Kopie "Uncle Josh at the Moving Picture Show" sieht das erhaltene Ende allerdings derartig aus, dass dort beide Alternativen ihre Berechtigung haben - was hübsche Assoziationen bewirkt, wenn man den Akt des sittlich-anständigen Zensierens und Verhüllens zugleich auch als Eifersuchtsakt auffassen darf: was man selbst nicht hat, sollen andere nicht zeigen dürfen.