Review

Mit "Elephant" (2003) lieferte Gus Van Sant seinerzeit sein vom Columbine High School-Amoklauf inspiriertes Drama ab, welches keinerlei Chronologie mehr folgte und nahezu alle Theorien über mögliche Motivationen der Täter anschnitt, ohne seinerseits eine Erklärung anbieten zu wollen. "Elephant" interessiert sich weder für Vorgeschichten, noch für den Ausgang des Schulmassakers, sondern setzt gemäß einer buddhistischen Parabel - in welcher fünf Blinde jeweils bloß einen Teil eines Elefanten abtasten, um zu völlig unterschiedlichen Vorstellung des ertasteten Tieres zu gelangen - darauf, dass man zum adäquaten Verständnis der Realität soviele Details & Verschränkungen, soviel Fülle im Auge behalten müsse, sodass die Systematisierung dieser Realität in einem vereinfachenden Modell eine totale Verzerrung darstelle: Es ist ein überraschend unpolitischer Film, in dem jede Differenzierung zugunsten eines Aufspürens des großen Ganzen aufgegeben wird.

Als bloß sechs Jahre darauf Denis Villeneuve - das junge Talent des kanadischen Kinos, welches seit "Prisoners" (2013) in Hollywood Fuß fassen konnte, ohne sich zu sehr vom Mainstream vereinnahmen zu lassen - seinen ebenfalls multiperspektivischen und nonlinearen, wenngleich geordnet erzählten Film über den zwanzig Jahre zurückliegenden Amoklauf an der École polytechnique de Montréal im Dezember 1989 ablieferte, lagen die Vergleiche natürlich auf der Hand: Und während "Elephant" als originäres Werk gehandelt worden war, schien "Polytechnique" weniger originell zu sein - noch dazu das Werk eines damals noch weniger bekannten, weniger renommierten Filmemachers. Es verwundert somit kaum, dass "Polytechnique" auf der IMDb bis heute nicht einmal ein Zehntel der Wertungen erreicht hat, die "Elephant" zuteil geworden waren. Dabei geht "Polytechnique" trotz leichter Ähnlichkeiten in der Struktur inszenatorisch und inhaltlich wieder eigene Wege: Villeneuves Film dürfte sehr sicher vom Gus Van Sant inspiriert worden sein, ist aber letztlich ein eigenständiges, nicht minder spannendes und sehr hochwertiges Werk geworden - das im Gegensatz zu "Elephant" auch entscheidend auf die Zeit nach dem Amoklauf eingeht (und darin eher dem kurz danach veröffentlichten, deutlich schwächeren Schulmassaker-Drama "April Showers" (2009) gleicht).

Im Gegensatz zum Van Sant lässt "Polytechnique" kaum Zweifel an der Motivation des Amokläufers, welcher [Achtung: Spoiler!] sehr früh im Film in einem Abschiedsbrief erklärt, dass er zu extremen Mitteln greifen wird, um den Feminismus zu bekämpfen, welcher sein Leben ruiniert habe und ihn geradezu zu seinen Maßnahmen nötige.[1] Ob es sich bei dem Täter lediglich um einen asozialen Kriminellen oder auch um einen gestörten Psychotiker handelt, bleibt - wie bei dem tatsächlichen Amokläufer Marc Lépine - jedoch offen (wenngleich Abweisungen & Neid wie beim wahren Täter einen Erklärungsansatz liefern können); zumindest schießt er an der École polytechnique de Montréal auf mehrere Frauen, die er als Feministinnen betrachtet (weil diese Ingenieurinnen werden wollen!), sowie auf willkürlich ausgewählte Frauen und Männer, die ihm quasi als Kollateralschäden vor den Lauf kommen, und tötet letztlich 14 Frauen, um weitere 14 Personen zu verletzen - und sich selbst schließlich durch Selbsttötung allen Konsequenzen zu entziehen.
Neben dem namenlos bleibenden Täter, welchen Villeneuve und Maxim Gaudette erfreulicherweise nicht zum Monster stilisieren, sondern als traurigen, verschlossenen Typen darbieten,[2] präsentiert der Film - nach ersten, unvermittelten Schüssen an den Kopierern, welche vor der Prätitelsequenz fallen - zu Beginn auch einige seiner späteren Opfer bzw. Zeugen des Geschehens.

Der Täter hält sich zu Beginn auf der Bettkante einen Gewehrlauf an den Kopf, grübelt am Küchentisch seiner WG, beobachtet eine Nachbarin, räumt auf, rasiert sich, verbrennt einige Fotos im Waschbecken, reflektiert dabei seine bevorstehende Tat & seine Beweggründe, lädt die Waffe und spült zuletzt noch angefallenes Geschirr in der Küche. Dann folgt der Film der morgendlichen Routine der zusammenwohnenden Studentinnen Valérie & Stéphanie: Während sich Stéphanie auf eine Prüfung vorbereitet, wählt Valérie - gespielt von Karine Vanasse, die auch zu den sechs Produzent(inn)en des Films zählt! - gewissenhaft ihre Kleidung aus, muss sie in Kürze doch noch ein Gespräch bezüglich eines angestrebten Maschinenbau-Praktikums führen. Sie wählt sich ein hochhackiges Schuhpaar aus, in welchem sie jedoch kaum laufen kann - und welches sie schlussendlich erst kurze Zeit vor dem Gespräch anziehen und sehr schnell danach wieder gegen ein bequemeres Paar flacher Schuhe eintauschen wird.
Während der Täter in seinem Wagen vor dem Losfahren einen Brief an seine Mutter beginnt, arbeitet der Student Jean-François in einem der Räume an einem Aufsatz, bekleckert seine Notizen mit Kaffee... Valérie führt ihr anstehendes Gespräch, bei dem der kurzhaarigen, Rock & hochhackige Schuhe tragenden Studentin erzählt wird, dass ihre Entscheidung für eine Frau ungewöhnlich sei: Aus unangebrachter Rücksichtnahme legt ihr der Gesprächspartner ein anderes Arbeitsziel nahe, welches eher mit einer Familiengründung zu vereinbaren sei - Valérie beharrt auf ihrem Interesse an Flugzeugtechnik. Sie wird dann nach eventuellen Kinderwünschen gefragt, da Schwangerschaften mitunter zum Karriereabbruch führen; auf diese Frage wird sie nicht wahrheitsgemäß antworten: Gegenüber ihrer Kommilitonin ist sie sich sicher, dass ihr eine wahrheitsgemäße Antwort eine Absage eingebracht hätte. (Und bezüglich ihrer Rock- & Schuhwahl schien sie auch auf Nummer sicher gehen zu wollen: Später im Film wird man sie in Hosen an ihrem ersehnten Praktikums- oder Arbeitsplatz sehen - wenn auch wieder in hochhackigen Schuhen, in denen sie nun aber standfester wirkt...)
Jean-François trifft Kommilitoninnen, betrachtet Picassos Guernica (1937) an der Wand und sucht einen Kopierer auf... Der Täter erkundet nochmals das Innere des Gebäudes, setzt sich wieder in sein Auto und hadert mit seinen Plänen. Schon will er wieder davonfahren, als ihn das Geplauder einiger Studenten dazu bewegt, wieder in die École polytechnique zu gehen, wo er sich ins Studentensekretariat begibt und seine Tat noch ein bisschen aufschiebt. Seine Waffe hat er bereits dabei, notdürftig verhüllt.
Valérie und Stéphanie lauschen in einem Seminar einem Vortrag über Entropie. Als der Dozent gerade von einem irreversiblen Prozess bis hin zur Selbstzerstörung spricht, stürmt schließlich der Amokläufer in den Raum. Er befiehlt den anwesenden Männern - unter ihnen Jean-François! -, den Raum zu verlassen. Jean-François kommt der Aufforderung als Letzter mit sichtlichen Gewissensbissen nach. Den Frauen teilt der Täter mit, dass er sie aufgrund ihres gewählten Studiengangs für Feministinnen hält. Als eine der Frauen protestiert - immerhin sei sie keine Feministin! -, schießt er mehrfach in die Menge.
Ein etwa zwanzigminütiger Amoklauf, an dessen Ende sich der Täter selber erschießen wird, wird nun aus Valéries, Jean-François' und des Täters Sicht wiedergegeben: Jean-François verlässt das Gebäude nicht, sondern versucht, soviel erste Hilfe wie möglich zu leisten, derweil der Täter mordend durch die Räumlichkeiten zieht. In den kürzlich verlassenen Seminarraum zurückgekehrt, findet er all seine Kommilitoninnen scheinbar erschossen vor. Tatsächlich stellen sich Stéphanie, die schwer verwundet ist, und Valérie, die leicht verwundet ist und sich bereits vergeblich bemüht hat, Hilfe zu holen, tot, da sie den zurückkehrenden Jean-François mit dem Täter verwechseln: Stéphanie stirbt neben Válerie, welche das Massaker überlebt - wie auch Jean-François, der unversehrt aus der Katastrophe herausgeht, aber wie soviele Opfer von Massenverbrechen an Schuldgefühlen leidet; an Schuldgefühlen dafür, dass er nicht noch mehr Hilfe leisten konnte, dass er überhaupt im Gegensatz zu anderen überlebt hat (und etwa dem Befehl des Täters nachgekommen ist). Er wird schließlich nach einiger Zeit nochmals seine Mutter besuchen und später versuchen, sich in seinem Wagen zu ersticken (und es vermutlich auch schaffen). Nach seinem begonnenen Suizid springt der Film wieder zurück und schildert Valéries Sicht auf das Massaker. (Die Sicht des Täters wird sowohl in den Jean-François-, als auch in den Valérie-Block immer wieder kurzzeitig eingeschoben.) Valérie erholt sich alsbald von ihren körperlichen Verwundungen, wird schwanger, geht - mit gefärbten Haaren, mit Hosen, aber wieder auf hochhackigen Schuhen[3] - dem erwünschten Praktikum nach. Sollte sie einen Sohn bekommen, erklärt sie, würde sie ihn lehren, zu lieben; sollte sie eine Tochter bekommen, würde sie ihr lehren, dass die Welt ihr gehöre.

Dieses Ende erweckt - zumal Valérie explizit davon spricht, mit allen verletzten Frauen mitzufühlen - zunächst einmal den Eindruck, dass "Polytechnique" einer feministischen Stoßrichtung folgt: einer Stoßrichtung, nach welcher Frauen Selbstbewusstsein zu erlernen hätten und nach welcher Männer das Lieben zu lernen hätten; eine Stoßrichtung, deren Bild einer schwachen, aber empathievollen Frau und eines starken, aber weniger empathischen Mannes genausogut bei antifeministischen Haltungen anzutreffen ist (wobei es dann aber eher um Beibehaltung und nicht um Veränderung geht). Diese Stoßrichtung wird noch dadurch unterstützt, dass beide bedeutsamen Männerfiguren des Films zu destruktiven Lösungen greifen und einen Suizid anstreben - und dass Villeneuves Inszenierung beide Männer auf diesselbe ungewöhnliche Weise beim Richten ihrer Betten filmt, dass er den Amokläufer zu Beginn einen Bart trägen lässt, welchen auch Jean-François trägt -, derweil die weibliche Hauptrolle zur lebensspenden, liebevollen Mutter wird (und dennoch ihre berufliche Karriere anstrebt).[4]
Dass der einzige Dialog im Hinblick auf berufliche Karrieren ein solcher ist, der - keineswegs unfreundlich oder herablassend - die Frau mit Fragen nach Schwangerschaft & Familiengründung konfrontiert und der ihre Geschlechtszugehörigkeit anführt, unterstreicht diesen ersten Eindruck ebenso wie der Umstand, dass Valérie eventuell den Rock, zumindest aber ihr Schuhwerk für notwendig hält, um den richtigen, seriösen Eindruck zu erwecken.
Doch Valéries Mutmaßung, dass sie das Praktikum ohne Lüge nicht bekommen hätte, ist an keiner Stelle mehr als eine bloße Mutmaßung; der Film liefert diesbezüglich keinen Beweis. Und auch, wenn Jean-François gegen Ende mit seinem Suizid zu einer destruktiven Lösung greift (und damit zumindest seine trauernde Mutter zurücklassen wird), so wurde er während des Massakers als ziemlich selbstloser, hilfsbereiter Typ präsentiert, sodass Valéries Annahme, man müsse Söhnen eher als Töchtern das Lieben lehren, zumindest gegenüber Jean-François (und offenbar auch Valéries nur lose umrissenen Freund gegenüber) unfair anmutet. Valéries Haltung ist - auch wenn ihr Monolog den Film beendet - keine, welche einem Publikum ganz unbedingt schmackhaft gemacht werden soll. "Polytechnique" verfolgt keinesfalls eine feministische Stoßrichtung und ist weder ein feministischer, noch ein antifeministischer Film - gleichwohl sich feministische Zuschauer(innen) nach dem Betrachten ebenso bestätigt fühlen können wie antifeministische Zuschauer(innen) (wenngleich auch nahezu niemand die Tat selbst gutheißen dürfte).
Valéries Haltung ist aber eine, die - zumal sie nie radikal erscheint - durchaus nachvollziehbar ist: Eine Männern gegenüber etwas kritischere Haltung dürfte nach dem misogynen Amoklauf eines Mannes nicht unbedingt verwundern. Und auch die extreme Reaktion Jean-François', der fortan an Schuldgefühlen leidet und letztlich zum Suizid greift, ist keinesfalls unrealistisch (gleichwohl der Film mit seiner Auswahl an Figuren, Haltungen und Handlungen etwas konstruiert wirkt).

Der entscheidende Punkt an "Polytechnique" ist, dass es ein Film über die Veränderung eines Standpunktes ist - inhaltlich und vor allem auch formal. Insofern ist bereits der Titel mehr als bloß eine banale Ortsangabe, sondern zugleich auch ein Hinweis auf eine Vielheit der Herangehensweisen, ein Hinweis auf viele Techniken. Und diese Haltung bleibt nicht darauf beschränkt, dass ein antifeministischer Mann und eine feministische Frau unterschiedliche Blicke auf diesselbe Gesellschaft werfen, auf welche ein sich nicht zum Thema äußernder Mann nochmals unbefangener blickt, oder darauf, dass ein Massaker durch die Augen des Täters, des Opfers, des Zeugen gleichermaßen betrachtet wird; sondern auch darauf, dass drei Hauptfiguren zu einer neuen Sicht der Dinge getrieben werden, zu einem neuen Blick auf die Welt: Da wäre der Täter, welcher seinen Lebensmut bereits verloren hat und sich nun mit dem Sterben arrangiert; der in der Welt, wie sie ihm zu sein scheint, nicht mehr weiterleben mag, und sich dazu entschließt, sich selbst und seine vermeintlichen Peinigerinnen auszulöschen. Der Täter ist ein junger Mann - der 35jährige Maxim Gaudette, der seinen Killer in Anlehnung an den 25jährigen Lépine gibt! -, welcher einerseits noch dem Alltäglichen mit seinem angesichts seiner Pläne längst sinnlos gewordenen Rasieren & Geschirrspülen nachgeht, andererseits aber auch in sich gekehrt agiert und kaum noch mit seinen Mitmenschen kommuniziert; ein Mann, der noch kurz vor der Tat mit sich hadert und kurzweilig den Plan hegt, sein Vorhaben aufzugeben - um dann doch seinen Amoklauf zu beginnen und sich hinterher in nunmehr tatsächlich aussichtsloser Situation zu entleiben. Er ist ein - stets traurig, manchmal auch etwas mürrisch dreinblickender - Lebender, der nicht mehr im Hinblick auf das Leben agiert, sondern im Hinblick auf den Tod: eine unleugbar neuartige Perspektive für die meisten (jungen) Menschen.
Da ist aber auch der hilflose Zeuge, der sich - als er vor die Wahl gestellt wird - zurecht entzieht, anstatt sich sinnlos zu opfern, und damit zwar reichlich Hilfe bei Verwundeten zu leisten vermag, später aber von den verbreiteten Schuldgefühlen geplagt wird. Sein Leben ist kein unbeschwertes mehr, sondern ein von (vermeintlicher) Schuld belastetes: Seine Perspektive auf das Leben hat sich geändert und auch er entschließt sich, in den Tod zu gehen - wenn auch aus einer unnötigen & unangebrachten Sühne heraus und nicht aus einem Rachebedürfnis heraus.
Und da ist die Angeschossene, die ihre Freundin hat sterben sehen; die erschöpft ist: nach außen hin trotz physischer & psychischer Verletzungen stark erscheinend, innerlich aber nach wie vor verletzt. Eine junge Frau, die aber angesichts des in ihr heranwachsenden Lebens eine neue Zuversicht gewinnt; die ihrem Leben eine zweite Chance gibt (wie sie es formuliert) und die dabei ihren Blick auf Sexismus nochmals schärft, die nun solidarisch mit allen verletzten Frauen fühlt und sich tatsächlich in dem angestrebten Männerberuf durchsetzt. Es ist keine radikale Veränderung ihres Lebens, aber ein Neustart nach einem einschneidenden Erlebnis, welcher mit einer gestärkten Entschlusskraft einhergeht - ein Anzeichen dafür, dass der Amokläufer 1989 den Feminismus in Kanada mit seiner so fanatischen wie verächtlichen Tat mehr gestärkt als geschwächt hat.

Und auch dem Publikum wird in der völlig überrumpelnden Prätitelsequenz gezeigt, wie schnell und unvermittelt eine alltägliche Situation in eine verstörende Ausnahmesituation umschlagen kann. Aber die wahre Qualität von "Polytechnique" liegt darin, dass er die neuen Perspektiven auf das Alltägliche und dessen trügerische Sicherheit (die so schnell verlorengehen kann) auch zum Anlass nimmt, die Kamera einen ungewöhnlichen Blick auf das Alltägliche werfen zu lassen: In kontrastreichen s/w-Bildern[5] zeigt Villeneuves Film etwa die kleinen Details, die in der Alltagswahrnehmung und im konventionellen Film so schnell untergehen. Da sind die leblosen Dinge, auf denen der Kamerablick verharrt, derweil sich der kaum ins Bild geratende Amokläufer an ihnen zu schaffen macht: Weiße Bettdecken, die gefaltet werden; Spülbecken, die volllaufen; Waschbecken, in denen Fotos verbrennen; Patronenhülsen, die zwischen Fingerkuppen sortiert werden. Hinzu kommen menschenleere Fassaden, Stadtpanoramen, Flure, steinerne, schneebedeckte Löwenköpfe: Die Unmenschlichkeit, die seit der ersten Sequenz präsent ist, wird mit einer ungewöhnlichen Menschenleere visualisiert. Und gerade die Sequenzen des Amokläufers werden von Großaufnahmen dominiert, die zu Beginn die Dinge um ihn herum unter die Lupe nehmen und später auch ihn selbst von seiner ins Off verschwindenden Umgebung abheben. Der Täter scheint dem Alltag bereits entrückt zu sein: Dass bei seinem ersten Auftritt im Film ein Poster mit Spiralnebeln hinter seinem Kopf an der Wand hängt, deutet das schon vage an...
Aber auch Valérie wird nach ihrem Gesprächstermin zunächst in der Aufsicht auf eine Toilettenkabine präsentiert, welche sie geradezu zu einer Gefangenen in einem beklemmend engen Raum macht. In jenen Szenen, in denen sie ohne Stéphanie zugange ist, tritt deutlich eine Einsamkeit, Isoliertheit ins Bild: Aus der Toilettenkabine tretend, findet sie sich in einer Reihe von Einstellungen wieder, in denen sie mit ihren vielen Spiegelbildern zwischen zwei sich gegenseitig reflektierenden Spiegeln agiert. Nur Valérie und der leere Raum sind zu sehen - dafür aber zigfach gespiegelt in die Tiefe des Filmsbildes hinein; und eine Einstellung gibt es in dieser Sequenz, in der sich die vermeintlich echte Valérie zweimal als Reflektion entpuppt, ehe die Kamera tatsächlich sie selbst einfängt. Ein beachtlich visualisiertes Nicht-so-recht-da-sein, Neben-sich-stehen und Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein... Jean-François, die dritte große Hauptfigur des Films, wird erstmals von einer Kamera eingefangen, die um 90° gekippt worden ist und während ihrer Fahrt in eine gewohnte Perspektive gleitet. Das gleiche geschieht, als er in jenen Raum zurückkehrt, an welchem der Amokläufer seine ersten Opfer gefunden hat; und auch später noch einige Male... Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesen Bildern; die Perspektive neigt zu ungewöhnlichen Auf- & Untersichten, zu einem Kippen am Ende oder am Beginn von einigen Fahrten & Schwenks. Als er nach dem Amoklauf zu seiner Mutter fährt, steht das Bild zunächst sogar Kopf als es in zur Untersicht gewordenen Aufsicht sein herannahenden Auto filmt. Während es unter/über ihr seinen Weg fortsetzt, schwenkt die Kamera in eine vergleichsweise gewöhnliche Perspektive, gleitet dabei zu den weißen Eisschollen, die in einem dunklen Fluss neben der Straße treiben - und aus diesem s/w-Muster wird einen Schnitt später eine weiße Schneelandschaft hinter dunklen Tannenzweigen: Abgesehen davon, dass beide Bilder zersplittert wirken, wird aus dem dunklen Hintergrund, auf welchem weiße Fetzen treiben, auch ein dunkler Vordergrund, hinter dem weißer Hintergrund durchscheint; es hat sich ein Verhältnis geändert in diesem Film, in welchem der misogyne Amokläufer wie ein Opfer seiner selbst erscheint, um am Ende wie seine weiblichen Opfer betrauert zu werden; in welchem sich ein Helfer der Opfer für einen Schuldigen hält; in welchem das Alltägliche in das Außergewöhnliche umschlägt... Und am Ende steht die Kamera nochmals Kopf, als sie während Valéries Schlussmonolog unter den vielen Deckenbeleuchtungen eines Korridors der École polytechnique entlangschwebt, um dabei wie ein abhebendes Flugzeug zu wirken, welches angesichts des Kopfstandes des Bildes eher ein abstürzendes sein dürfte. Der Schein trügt in diesem Film und Perspektivwechsel werfen neues Licht auf die Dinge...

Jacques Rancière, einer der bedeutendsten Kino-Erforscher der Gegenwart, geht in seinen Schriften davon aus, dass "[t]he film fable is a thwarted fable"[6]: Es durchkreuzen sich ständig die ästhetische Logik und die repräsentative Logik innerhalb der Filmkunst. "Auch bei den konsequentesten Pionieren ist die Filmkunst nie in der reinen Bildsprache aufgegangen. Umgekehrt hat sie diese aber auch nie verleugnet, nicht einmal in ihren banalsten repräsentativen Formen"[7], urteilt Rancière an anderer Stelle; und kommt dort wenig später zu dem Schluss: "Und das künstlerische Verfahren, das beide Ordnungen verknüpft, fiktionalisiert auch die Formen des Sichtbaren und der Anschauung, die die Teilhabe an einer Welt definieren."[8]
"Polytechnique" ist dafür ein wundervolles Beispiel, ist doch der unkonventionelle Kamerablick auf die Welt eine hervorragende Veranschaulichung der Verletzlichkeit der Alltäglichkeit, die in wenigen Minuten oder gar Sekunden in einem ganz neuartigen Licht erscheinen mag und dann einen Anblick liefert, nach welchem man mit seinem Leben hadert oder - wie Jean-François - gar abschließt. Dass das auch gewollt war, macht Villeneuve mit dem Blick der Kamera (und dem Blick Jean-François') auf Picassos Guernica deutlich, welches 72 Jahre zuvor ähnliches tat.[9]

"Polytechnique" leidet bloß ein wenig an einer leichten Tendenz zur kitschigen Verklärung in den harmonischeren Momenten gegen Ende - eine Schwäche, die auch später ein wenig in "Prisoners" und noch etwas stärker in "Arrival" (2016) präsent ist! - und daran, dass sein Arrangement durchaus glaubwürdiger Figuren & Situationen insgesamt etwas zielstrebig, effizient und konstruiert wirkt. Dass er es aber schafft, eine unkonventionelle, gelegentlich gar minimalistisch anmutende Ästhetik konsequent durchzuhalten, ohne sonderlich gestelzt zu wirken - und dass er dabei keinen Selbstzweck verfolgt, sondern Form und Inhalt einem Grundgedanken unterordnet -, ist ein großes Verdienst! Benoît Charests zurückhaltende, melancholische Filmmusik - und bekannte Songs von Siouxsie and the Banshees oder Men Without Hats als Kontrapunkt -, die beachtliche Kameraführung Pierre Gills und glaubwürdige, nicht von der Aura großer Filmstars beeinträchtigte Darstellerleistungen verpassen diesem Drama dann noch den letzten Feinschliff.
8,5/10


1.) Zwar betont er in seinem Abschiedsbrief, welchen Villeneuve in voller Länge einbindet, eine vermeintliche Rationalität seines Handelns, geht dann allerdings in einem ersten Irrtum davon aus, dass sich der Feminismus als eine einzige, einheitliche Ideologie auffassen ließe, gleichwohl viele, sich teils erheblich voneinander unterscheidende (und einander kritisierende) Strömungen unter diesem Oberbegriff zusammenzufassen wären. Auf diese Weise muss er sich nicht bloß auf ein paar weniger sinnige Äußerungen einiger Feminist(inn)en stützen - die er aber auch allem Anschein nach gar nicht nachvollziehen können will (und von denen man als Zuschauer(in) auch gar nicht weiß, ob er sie überhaupt adäquat wiedergegeben hat) -, sondern kann er darüber hinaus auch alle erdenklichen, unabhängig voneinander erhobenen Forderungen und - besonders unsinnig! - unterlassenen Forderungen verschiedener Feministinnen anführen, um dadurch das Zerrbild eines einzigen, wenig konsequenten Feminismus zu zeichnen, der die bloße Bevorteilung von Frauen anvisiere. Auf diese Weise gelangt er dann zu dem Schluss, alle Feministinnen bekämpfen zu dürfen/müssen - und definiert dann in einem nächsten Irrtum bereits all jene Frauen als Feministinnen, welche traditionelle Männerberufe angepeilt haben. Darüber hinaus nimmt er auch zufällige Opfer in Kauf, für deren Tod er indirekt den - ihn zu drastischen Maßnahmen nötigenden - Feminismus verantwortlich macht. (Dasselbe taten in der Realität dann auch einige antifeministische Stimmen, die nicht den Täter, sondern dessen Ziel für die Tat verantwortlich machten - welche übrigens unter anderem den Canadian Panel on Violence against Women und die White Ribbon Campaign bewirkte.)
2.) Ohne die Tat zu verteidigen, lässt Villeneuve gegen Ende dann auch eine überraschende Annäherung zwischen Täter und Opfer erfolgen: Wenn der Täter nach seinem Suizid neben einem seiner weiblichen Opfer am Boden liegt, breiten sich die Blutlachen unter beiden Leichnamen aus, bis sie schließlich einander erreichen und zu einer einzigen Pfütze vereinigen.
3.) Der Film lässt allerdings geschickterweise offen, ob Valérie gegen Ende Hosen trägt, weil sie sich nach der Erfahrung des misogynen Massakers zu emanzipieren gedenkt (
wobei natürlich auch emanzipierte Frauen und Feministinnen Röcke tragen!); oder ob sie generell zu Hosen neigt und sich den Rock bloß für den Gesprächstermin bezüglich ihres Praktikums ausgewählt hat. (Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass sie der Kleidung in beiden Situationen keinerlei bedeutung zumisst; aber der Film hebt ihre äußerlichen Veränderungen - auch dank der gefärbten Haare - zu sehr hervor, als dass sich diese dritte Lesart wirklich anbieten würde.)
4.) Man kann Villeneuve zudem attestieren, eine Vorliebe für idealisierte Frauenfiguren zu hegen: Mit Ausnahme von "Enemy" (2013) -
der aber zumindest noch ein Film über Weiblichkeit, Männlichkeit und den männlichen Blick ist - und "Prisoners" widmen sich all seine Spielfilme weiblichen Hauptfiguren, von denen zumindest die offene, empathievolle, gescheite Linguistin in "Arrival", die idealistische, humane FBI-Agentin in "Sicario" oder die Libanonreisende (und ihre Mutter) in "Incendies" (2010) die am stärksten positiv konnotierten Figuren der jeweiligen Filme darstellen.
5.) Es ist Villeneuves erster s/w-Langspielfilm, wobei er schon beim Episodenfilm "Cosmos" (1996) mit der s/w-Ästhetik gearbeitet hatte.
6.) Rancière: Prologue. In: Film fables. Berg 2006; S. 11.
7.) Rancière: Die Geschichtlichkeit des Films. In: Drehli Robnik, Thomas Hübel, Siegfried Mattl (Hg.): Das Streit-Bild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière. Turia+Kant 2010; S. 228.
8.) A. a. O.; S. 230.
9.) In Picassos - als brutal & schockierend geltendem - Gemälde fließt übrigens kein Blut: Bei Villeneuve fließt es zwar, aber schwarz und nicht rot. Der Griff zur s/w-Ästhetik war vor allem auch dem Versuch geschuldet, das Schockierende des Films nicht über detaillierte Bilder der Gewalttätigkeit zu vermitteln - ein Verfahren, das er später auch in "Sicario" (2015) teilweise nochmals aufgreift, wenn er eine Reihe von Morden durch verfremdende Nachtsichtgeräte zeigt.

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