"Visualizin the realism of life and actuality
Fuck who's the baddest a person's status depends on salary" - Nas
Unter dem Begriff Armut versteht man generell den Mangel an Alltagsgütern wie Lebensmittel und Kleidung, in unserer industrialisierten Welt aber häufig auch lediglich die fehlenden finanziellen Mittel zum sozialen Leben sowie zur Anschaffung von Luxusartikeln wie Fernseher, Computer, Handys oder Spielkonsolen. Fernab von Bildungschancen und Zukunftsperspektiven existiert inmitten einer sich gern als modern und wohlhabend präsentierenden Gesellschaft eine immer größer werdende Bevölkerungsgruppe, die „unterhalb der Armutsgrenze“ lebt – von den Massenmedien gern als „Unterschicht“ bezeichnet. Während der sogenannte Bildungsbürger von den Menschen hinter diesem Begriff in der Regel nichts weiß, außer dass es sich dabei nach Darstellung diverser Sendeformate des Privatfernsehens hauptsächlich um Faulpelze und Kleinkriminelle handelt, so lässt sich nach Ansicht von Andrea Arnolds Fish Tank zumindest eines attestieren: Die wahre Armut ist häufig nicht einmal die materielle.
Mia ist fünfzehn, mitten in der Pubertät und wütend. Einfach auf alles und jeden. Von der Schule wurde sie längst verwiesen und ihre überschüssige Zeit verbringt sie damit, ihre Mitmenschen an ihrem Zorn teilhaben zu lassen, was gelegentlich auch mit einer gebrochenen Nase endet. Ihrer alkoholkranken Mutter ist sie längst entglitten, Freunde hat sie mit Ausnahme kurzzeitiger Bekanntschaften keine mehr, mit ihrer kleinen Schwester liegt sich ständig verbal in den Haaren. Momente der Freude empfindet sie nur in kleinen Dosen, wenn sie sich in eine leerstehende Wohnung zurückzieht und tanzt. Ganz für sich allein.
Die Situation scheint sich zum besseren zu wenden, als ihr eines Morgens der neue Liebhaber ihrer Mutter begegnet: Connor. Ein netter, gut aussehender Typ mit regelmäßigem Einkommen, der Mia trotz ihrer schroffen Art zu mögen scheint und sie dazu ermutigt, an sich selbst zu glauben. Doch ihr neuerliches Aufblühen wird ein ums andere mal von ihrer desillusionierten Mutter sabotiert, aufkeimendes Selbstwertgefühl im Keim erstickt. Zu tief sitzt der Stachel des eigenen Versagens, der nicht mehr nur auf sich selbst, sondern auch auf die Nachkommen projiziert wird und es diesem somit doppelt schwer macht, aus dem Kreislauf der sozialen Verwahrlosung auszubrechen.
Die Unfähigkeit, den nahe stehenden Menschen gegenüber Gefühle zu zeigen, geschweige denn mit ihnen darüber sprechen zu können, ist das Kernproblem in der Beziehung zwischen Mia und ihrer Familie. Emotionale Kommunikation findet fast nur in Form von derben Beschimpfungen statt, Berührungen sind meistens mit körperlicher Gewalt verbunden. Die Ausnahme von der Regel bildet die Musik: Ob Mia alleine ihre Breakdanceschritte übt, zu den Klängen von Caliornia Dreaming von einer besseren Zukunft träumt oder sie sich zu den Beats von Nas' Life’s A Bitch von ihrer Familie verabschiedet - die wichtigsten Empfindungen lassen sich manchmal schwer in Worte fassen und leichter durch Gesten und Taten ausdrücken. Umso bittersüßer schmeckt der Moment, wenn sich die Schwestern im Arm liegen und mit den Worten „Ich hasse dich“ das genaue Gegenteil meinen.
Diese sensiblen Momente sind es, die Fish Tank weit über das Niveau eines plakativen Sozialdramas für das öffentlich-rechtliche Nachtprogramm heben. Andrea Arnold vermeidet es konsequent, einen Schuldigen für die missliche Lage der Protagonistin zu suchen. Weder verteufelt sie ihr direktes Umfeld - sogar für ihre psychisch labile Mutter hat man auf eine erschreckende Art und Weise Verständnis – noch lässt sie sich dazu verleiten, sozialpolitische Aspekte in ihre Betrachtungen einfließen zu lassen, die dem thematischen Kern auch in keinster Weise gerecht geworden wären.
Der heikelste Punkt ist natürlich die sexuell aufgeladene Beziehung zum deutlich älteren Connor, dessen Motive und Beweggründe ebenso konsequent im Dunkeln gelassen werden wie die Folgen seines und ihres Handelns. Beide verhalten sich sowohl aus moralischer wie auch gesetzlicher Sicht falsch, und sie wissen es. Die Problematik der fehlenden Fähigkeit zur Artikulation endet beinahe in einer Tragödie, die nur mit viel Glück vermieden werden kann. Auch hier zeigt sich, dass Arnold trotz dramaturgischer Überspitzung viel daran gelegen war, die Glaubwürdigkeit ihrer Hauptfigur aufrecht zu erhalten. Diese ist nicht zuletzt ein Verdienst der herausragenden Katie Jarvis, die den zornigen Teenager leidenschaftlich verkörpert und die Trauer und Einsamkeit ihrer Figur durch nuancenreiches Spiel jederzeit spürbar macht.
Fish Tank ist weder eine Solidaritätserklärung mit den Ärmsten der Gesellschaft noch eine Anklage gegen die Obrigkeit, will weder falsches Mitleid erregen noch wütend machen. Der Regisseurin gelingt mit beinahe dokumentarischer Nähe zu ihrer Hauptfigur das Kunststück, einen nüchternen Blick auf ein für viele befremdliches Milieu zu wahren, um gleichzeitig mit subtilen, aber eindringlichen Mitteln zu schildern, dass das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit die wohl stärkste aller menschlichen Sehnsüchte ist. Und auch wenn das Leben ein Miststück ist: Die Hoffnung ist erst verloren, wenn wir aufhören, danach zu suchen.