Man kennt dieses Szenario aus unzähligen Heimatfilmen - die Ansammlung hübscher Häuser mit ihren hohen Satteldächern, gruppiert um eine zentral gelegene Dorfkirche. Etwas abgelegen steht das Herrenhaus, in dem der Baron mit seiner Familie lebt, gleichzeitig der größte Arbeitgeber der Gemeinde. Umgeben ist das Dorf von weitläufigen Feldern und einem großen Waldstück. Auch die Typisierung der Bewohner entspricht dem bekannten Muster - es gibt die kultivierte Frau des Barons samt Hauslehrer und Dienstmädchen, seinen Verwalter, den protestantischen Pfarrer, der sonntags zur Messe lädt, den Dorfarzt, der zu jeder Tag und Nachtzeit auf Hausbesuch kommt, diverse Bauern und natürlich auch den jungen Dorflehrer, der eine Einheitsklasse unterrichtet.
Aus dessen Erinnerung heraus wird die "deutsche Kindergeschichte" erzählt und Michael Haneke spart dabei nicht mit den üblichen Storyelementen des Heimatfilmgenres, geprägt von dem Wechsel der Jahreszeiten - die gemeinsame Ernte mit dem anschließenden Erntedankfest vor dem Landhaus des Barons, das Weihnachtsfest im Haus des Pfarrers, die Konfirmation im Frühjahr und nicht zuletzt die anrührende Liebesgeschichte zwischen dem Dorflehrer (Christian Friedel) und dem jungen Dienstmädchen Eva (Leonie Benesch), die, den damaligen Anstandsregeln gehorchend, langsam zueinander finden.
Die Szene, als der Lehrer mit seiner schon mit ihm verlobten, zukünftigen Frau zu einem kleinen See fahren will, um dort ein kleines Picknick zu veranstalten, könnte direkt aus einem 50er Jahre Heimatfilm stammen. Verlegen bittet sie ihn, von diesem Wunsch Abstand zu nehmen. Keineswegs, weil sie seine Person ablehnt, sondern - wie jeder unausgesprochen nachempfinden kann - sie selbst nicht garantieren kann, in einer solchen Situation nicht zu sündigen. Nicht nur in dieser Konstellation, sondern in sämtlichen Sozialbeziehungen herrschen die tradierten klaren Verhältnisse. Der Mann ist immer die Autoritätsperson, die Frauen kümmern sich um den Haushalt und eine große Anzahl an Kindern, die wiederum zu anständigen Menschen erzogen werden sollen.
Der filmische Umgang der Beschreibung des Lebens in der deutschen Provinz - hier auf wenige Jahre vor dem 1.Weltkrieg beschränkt - erfolgte in der Regel in zwei Extremen. Zum Einen wurden im Heimatfilm der Nachkriegszeit die alten Konstellationen als Hort der Tugend und gleichzeitiger Lebensfreude inmitten schöner Natur verherrlicht, mit ihren autoritären, aber gerechten und verantwortungsbewussten Führern, hübschen, aber anständigen Mädchen, die zu liebevollen Müttern wurden, und wohlerzogenen Kindern, die wussten, wann sie frech sein durften und wann nicht. Aus dem Erfolg dieser Filme in den 50er und 60er Jahren sprach eine Sehnsucht nach der Phase vor den Weltkriegen, als die Welt noch in Ordnung schien. Kleinere Dramen oder Verbrechen, die in diese heile Welt einbrachen, hatten - neben dem Spannungsaufbau - nur zur Folge, die moralische Instanz der guten Menschen zu erhöhen.
Zum Anderen entstand zunehmend eine Kritik an den damaligen Verhältnissen, die den Nationalsozialismus durch ihre reaktionäre und fremdenfeindliche Haltung begünstigt hätten. Diese Art kritischer Heimatfilme zeigte die Unterdrückung der Frauen, Ausbeutung von Kindern und jede Art Verfolgung eines Andersseins. Haneke - und das macht seinen Heimatfilm so außergewöhnlich - geht einen anderen Weg, der sich auch von seinem eigenen plakativen Stil verabschiedet. Anders als in "Funny Games", der den Widerspruch aufwarf, Voyeurismus zu kritisieren und gleichzeitig zu bedienen, erzählt er hier im Grunde eine ganz normale Geschichte. Die wenigen ungewöhnlichen Vorfälle werden optisch nicht hervorgehoben und sind, selbst am Heimatfilm der 50er Jahre gemessen, von geringer Dramatik, wenn man sie nur äußerlich betrachtet. Nicht ohne Grund wird selbst vom Baron (Ulrich Tukur) erst nach dem letzten dieser Ereignisse die Polizei herbei gerufen.
Es sind die Feinheiten, die diesen Film schon von Beginn an in ein Panoptikum aus Angst, Kontrolle und unterdrückter Wut pressen, symbolisch an dem Titel gebenden "weißen Band" verdeutlicht. Die weiße Farbe soll Unschuld und Reinheit signalisieren, doch sie wird als bestrafende Stigmata verwendet. Der Dorfpfarrer (Burghart Klaußner) bindet das weiße Band seiner Tochter Klara und seinem Sohn Martin um, nachdem sie jeweils durch zehn Stockhiebe gereinigt wurden. Es soll sie an einen tugendhaften Lebenswandel erinnern und so lange von ihnen getragen werden, bis er wieder Vertrauen zu ihnen fassen kann. Anlass für diese Strafe, war ein Zuspätkommen zum Abendessen.
Angesichts des allgemeinen Dorflebens wirkt diese Szenerie, die der Betrachter nur vom Hausflur aus mithört, weder übertrieben noch besonders dramatisch, sondern nur folgerichtig. Dabei gelingt es besonders Burghart Klaußner, die Ambivalenz in seiner Vorgehensweise zu verdeutlichen. Ihm ist die Liebe zu seinen Kindern anzumerken, aber seine Position und angelernte Rolle machen ihn unfähig, diese Gefühle auszuleben. Als ihm, in einer späteren Szene, sein kleiner Sohn einen Vogel schenkt, ist er nicht in der Lage, seine Freude darüber auszudrücken. Die Pfarrersfamilie bildet in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen dem Vater, der passiven Mutter und ihren zwei ältesten Kindern das Zentrum des Geschehens und verdeutlicht, dass es Haneke nicht um eine konkrete Schuldzuweisung geht, die gleichzeitig die Unschuld der Anderen bedeuten würde.
Das der Verdacht an den Verbrechen auf die Kindergruppe gelenkt wird, liegt in der Natur der begangenen Straftaten, da diese entweder hinterhältig - etwa als der Dorfarzt über eine dünne gespannte Schnur mit seinem Pferd stürzt und sich dabei verletzt - oder an anderen Kindern verübt werden. Doch an einer konkreten Aufklärung ist Haneke nicht interessiert, denn wesentlich aussagekräftiger ist der Charakter der Taten, die sich gegen Außenseiter richten. Spätestens daran wird Hanekes Intention deutlich, der das Bild einer autoaggressiven Gesellschaft zeichnet, die sich durch Kontrolle und rigorose Durchsetzung selbst auferlegter Regeln, jede Form der freien Entfaltung nimmt und bis an die äußersten Schmerzgrenzen drangsaliert. Die Frage nach Schuld oder Verantwortung stellt sich schon lange nicht mehr, da die tradierten Verhaltensmuster jeder Rolle fest in den Köpfen der Menschen verankert sind.
Wie in Tarantinos „Inglourious Basterds“ transportiert auch in „Das weiße Band“ vor allem die Sprache die unterschwellige Gewalt. Schon in den ersten Sätzen eines Dialogs (wenn man diesen überhaupt so nennen kann) werden die Machtverhältnisse deutlich, wird jedes Wort, jede eingelegte Pause zur Waffe, die dem Schwächeren keine Chance mehr zum Entkommen ermöglicht. Auf dieser Ebene ist Hanekes Film ein Gegenentwurf zu Tarantinos Satire, denn bei ihm fehlt die unterhaltsame Pointe, der satirische Unterton. Es gibt kein Ventil, das die Handlung befreit und mit diesem will Haneke in seinem Film auch gar nicht dienen.
Im konkreten Fall mündete die unterdrückte Gewalt in dem zum Ende hin angekündigten 1. Weltkrieg, der angesichts der angestauten Aggressionen quasi kommen musste. Wer Hanekes Film deshalb nur als zeitgeschichtliches Detail ansieht, dass inzwischen der Vergangenheit angehört, verkennt zwei Aspekte. Die auch heute noch vorhandene Verklärung der äußeren Ordnung, deren inneren Zwänge verdrängt werden, und die nach wie vor in vielen Ländern praktizierte Unterdrückung des eigenen Volkes, unabhängig davon, ob aus politischer oder religiöser Absicht. Hanekes Film ähnelt so einem generellen Experiment, dessen Ergebnis nur in eine Richtung führen kann (9/10).