Lars von Trier war schon immer ein Infant terrible unter den Regisseuren. Es gibt fast nichts, was man von ihm als "Gewöhnlich" bezeichnen kann, oder als etwas, dass man schnell und locker konsumieren kann. Nein, von Trier weiß zu provozieren und den Zuschauer vom klassischen Kommerzkino tief in das Herz des Autorenfilmer zu ziehen. Logisch, dass er damit auch immer wieder in Canne aufläuft und zumindest bei "Breaking the Waves" hat auch einmal mit dem großen Preis der Jury geklappt. Mit "Antichrist" wagt er es erneut zu den Filmfestspielen und sorgt für einen Skandal. Denn auch wenn es mit einem Preis für Gainsbourg als beste Darstellerin geklappt hat, der größte Teil des Premierenpublikums lehnte das Werk ab, buhte und verließ den Saal. Vergleiche mit Folterfilmchen alla "Hostel" gingen durch den Raum, was von Trier natürlich überhaupt nicht schmeckte. Nach Ansicht von "Antichrist" nun kann man jedoch sagen, dass all die Ablehnungen durchaus verständlich sind, denn von Triers neuster Streifen ist definitiv sein Heftigster. Doch unterm Strich ist es auch ein Meisterwerk, das es so schon lange nicht mehr gab und geben wird.
Die Story, welche sich von Trier ausgedacht hat, sieht dabei auf den ersten Blick zwar dramatisch, aber im Endeffekt doch noch harmlos aus. Er erzählt die zunächst einfach wirkende Geschichte eines Ehepaares, welches einen schrecklichen Verlust zu beklagen hat. Ihr Sohn ist aus dem Fenster gestürzt, während sie sich im Raum nebenan liebten. Da der Mann Therapeut ist, versucht er seine traumatisierte Frau selbst zu therapieren, in dem er mit ihr in eine abgelegene Waldhütte fährt. Unterschiedliche therapeutische Spielchen und die Ruhe des Waldes sollen dabei helfen, den Schmerz zu verarbeiten, doch schon bald entwickelt sich die Therapie zum Martyrium, welches in einem furchtbaren Strudel aus Verzweiflung und Gewalt endet... Und der Zuschauer merkt nur allzu bald, dass die zunächst wie schon tausend Mal erzählt wirkende Story eine Tiefe und eine Kraft besitzt, wie man sie kaum erwartet würde. Ein tiefer Einblick in die Dunkelheit zerstörter Seelen, ein quälendes Miterlebnis von Schmerz und Trauer, ein Zeugnis dafür, was Verzweiflung und die eigene Schuld aus einem machen kann. Von Trier verarbeitet seine eigenen Ängste zu einem Alptraum, der sich gewaschen hat.
Dabei ist es vor allem der Aufbau des Films, welcher unheimlich fasziniert. Nach einem gerade zu poethisch wirkenden schwarz-weiss Prolog, in dem das Unheil seinen Anfang findet, bekommt der Zuschauer es erst einmal für ca. 75 Minuten mit einen ruhigen, ja sehr ruhigen Film zu tun, welcher vor allem durch viele Dialoge geführt wird. Ein Kammerspiel wie es im Buche steht ist es, wenn Er versucht seine Frau zu therapieren, diese ihm immer wieder entgleitet und Er deshalb versucht, Sie durch verschiedene Versuche wieder zurück zu gewinnen. Wesentlich mehr als "Gerede" gibt es da nicht. Doch schon dieses "Gerede" enthält Schmerz, Verzweiflung, Wut und Trauer, welche deutlich spürbar sind und einen unaufhörlich packen. Ab und an spielt Er auch mal ein wohl therapeutisch sinnvolles Spielchen mit ihr, in dem Er Sie in ihre Träume schickt oder mit ihr durch das Gras läuft, welches ihr psychisch unter den Füßen brennt. Man spürt förmlich wie Er sich komplett der Therapie seiner Frau hingibt und ist ein jedesmal traurig, wenn man merkt das diese nicht anzuschlagen scheint, bzw. es nur zu kurzen Lichtblicken kommt, bevor Sie wieder in den Abgrund stürzt. Von Trier hat damit ein hoffnungsloses Unterfangen geschaffen, das den Zuschauer förmlich auffrisst.
Doch die einzige wirkliche Gefahr, die das ganze Treiben immer wieder aufbringt, ist die Sexualität, vorzüglich die weibliche Sexualität. Denn der Sex hat das Trauma ausgelöst, im Zeichen höchster Lust ist das Kind in den Tod gestürzt und hat den Umgang damit ein für allemal zerstört. Immer wieder kommt es zu einem kurzen Versuch, die alte Leidenschaft wieder aufzuflammen, mal aus wirklich romantischer Sicht, mal aus reiner Sucht, mal aus schierer Verzweiflung. Doch es ist nicht wie es einmal war. Und auch wenn das Geschehen ruhig ist und das wirkliche Ausmaß noch lange nicht absehbar ist, so sind es vor allem immer wieder diese Szenen, die einen spüren lassen, dass da doch noch etwas ganz Häßliches kommen wird. Und dabei ist es sicher nicht die Absicht von Triers, den Sex als etwas Böses aufzuzeigen, selbst wenn dies sicher von manch einem so gesehen werden kann, sondern eher ganz im Gegenteil. Sex ist etwas das im falschen Moment als das Brandkind für alles gehalten wird und damit eine zerstörerische Kraft in sich birgt, die er eigentlich gar nicht verdient hat.
Und diese zerstörerische Kraft fährt von Trier dann in den letzten 45 Minuten mit einer derartigen Konsequenz auf, dass man, trotz der Anzeichen im Vorfeld, gar nicht weiß, wie einem plötzlich zu Mute wird. Sie flippt plötzlich, erst einmal ohne wirklich erkennbaren Grund, total aus und der Film gibt sich einer Perversion hin, die einen genauso anwidert wie fasziniert. Blut, Qualen und Verzweiflung, die es so drastisch nur selten im Film zu sehen gab, einfach weil der Mensch so etwas eigentlich nicht sehen will und sich doch dabei ertappt, wie er gebannt hinschaut, bis von Triers Spiel mit der Perversion dann in einer Szene so weit geführt wird, dass sich wohl nicht wenige Zuschauer gewillt fühlen, den Saal zu verlassen. Es ist hart an der Grenze was von Trier hier aufführt aber in seinem Gegensatz zum ruhigen Beginn dennoch so konsequent, dass es einfach hineingehört. Auch wenn es sicherlich Diskussionswürdig ist, ob eben diese Szene so graphisch dargestellt werden muss, in punkto Lähmung und Verstörung des Zuschauers ist sie in dieser Konstellation ein ganz großer Wurf!
Zumal die graphische Überwucht des Ganzen sich nicht nur auf die Gewaltszenen begrenzt, sondern der ganze Film im Grunde eine einzigartige visuelle Wucht darstellt. Den Prolog (sowie den Epilog) gibt es ,wie bereits erwähnt, im poetischen schwarz-weiss, bevor das Ganze dann in durchgehend trüben Bildern belassen wird, die nur ab und an mal ein wenig aus dem Rahmen fallen, dann aber richtig. Vor allem Ihre Traumsequenz im Zug kommt fast schon einem hochwertigen Gemälde gleich. Und die Sexszene im Wald, bei der hunderte von Händen durch das Dickicht ragen, ist einfach nur ein Augenschmaus sonders gleichen. Im starken Kontrast dazu Vor- und Abspann, sowie die eingeblendeten Kapitel-Tafeln, welche nur wie ganz billige Zeichnungen wirken. Und dann wieder das Finale im dichten, grauen Nebel, der in seiner Dichtheit locker so manch anderen Filmnebel in die Tasche steckt. All das zusammen ergibt eine Kombination von Visualitäten, denen man sich schwer entziehen kann und die eine Atmosphäre erzeugt, welche einen regelrecht aus den Socken haut.
Abgerundet von zwei Schauspielern, die diesem Werk eine Hingabe der besten Art zeugen. Die enorm schwere Darstellung der beiden Charaktere, welche von Trier übrigens durchgehend ohne Namen belässt, da sie als Abbild eines jeden von uns gelten sollen, wird von Defoe und Gainsbourg mit einer derartigen Hingabe präsentiert, welche sicher all ihre vorhergehenden Schauspielleistungen verblassen lässt. Gainsbourg ist damit zurecht in Canne ausgezeichnet worden und auch Defoe hätte es verdient gehabt. Mehr Rollen gibt es übrigens nicht, sieht man mal vom kleinen Jungen aus dem Prolog, sowie einigen Extras in der Beerdigungsszene ab.
Fazit: "Antichrist" ist mit Sicherheit Lars von Triers drastischstes Werk, dabei aber auch definitiv sein Bestes. "Antichrist" widert einen genauso an, wie es einen fasziniert, lädt einem zum Hingucken ein und zum abwenden und erzählt eine gar nicht einmal so unübliche Geschichte mit einer derartigen Wucht, das es einem noch lange im Gedächtnis bleibt. Die Kombination aus ruhiger, dramatischer und stark dialoglastiger Erzählung auf der einen Seite und der drastischen, gewalttätigen und zutiefst bitteren Perversion auf der anderen Seite, ergeben ein Kunststück, das man entweder nur ablehnen kann oder bis zum Schluss mit Faszination und stahlharten Nerven verfolgt. Beides ist hier absolut nachvollziehbar, nur Vergleiche mit Filmen wie "Hostel" sollte man sich sparen! Denn von Triers Interpretation von Horror ist eine komplett Andere und auch für ein ganz anderes Publikum erdacht. Dieses Publikum jedoch sollte sich "Antichrist" nicht entgehen lassen. In dieser Form wird man Verzweiflung und dessen Folgen so schnell nicht wieder in einem Film sehen können!
Wertung: 9,5+/10 Punkte