Mit Abstand betrachtet wirken die Neunziger wie ein Jahrzehnt, das aus kinematographischer Sicht die Verblockbusterung der Achtziger konsequent fortsetzte und gewissermaßen eine Identitätskrise amerikanischer Filmkultur herbeiführte. Wohl auch noch durch das Wegbrechen des jahrzehntelangen Feindbildes verschlimmert. Die inhaltliche Leere wurde dann im Kino mit Schauwerten aufgefüllt, wobei man sich mehr und mehr der modernen Computertechnik bediente, ohne die heutige Großproduktionen nicht mehr auskommen.
Natürlich gab es aber auch in den Neunzigern Highlights. "Pulp Fiction" dient als Beispiel dafür, dass man aus der festgefahrenen Situation und inhaltlichen Stagnation auch eine Tugend machen kann, indem man Filme als Zitationswerk konstruiert.
Jedoch gab es vereinzelt auch wirkliche Lebenszeichen eines neuen und selbstbewussten Kinos jenseits der Popcornplakativität.
Der von mir meistgeschätzte Vertreter dieser Ära auf dem Regiestuhl ist David Fincher, der mit einer modernen und eigenständigen Optik, die zu keiner Zeit seine berufliche Herkunft als Musikvideoregisseur leugnet, und einem provokanten Blick auf die westliche Geselllschaft besonders gelungene Filme ablieferte.
Kann man den dritten Teil der Alien-Saga noch als warm-up bezeichnen, so startete Fincher mit "Sieben" so richtig durch.
Eine schlimme und schlimmere Welt
Das Drehbuch erweist sich als zynische und pessimistische Parabel auf die moderne Welt, in der sich der Mensch scheinbar endgültig von Werten und Moral getrennt hat. In dieser Welt voll Schlechtigkeit scheint es nur noch wenige zu geben, die ein Gegengewicht zu Korruption, Perversion und Abstumpfung bilden können.
Die Charakterzeichnungen der Figuren in "Sieben" sind somit ein zentraler Aspekt, muss man sie eben in dieser Welt gewissermaßen in schlecht, schlechter, weniger schlecht und gut unterteilen. Letztere Eigenschaft trifft dann nur noch auf die wenigsten zu.
Die Figuren
Da wäre zum einen Detective Somerset, gespielt von Morgan Freeman, der kurz vor der Pensionierung den Kampf gegen das Übel der Welt voller Verbitterung schon beinahe aufgegeben hat. Diese Figur ist in ihrer Ambivalenz zwischen Resignation und dem letzten Funken Idealismus der interessanteste Part und für den Zuschauer immens wichtig. Denn ansonsten gibt es kaum einen Halt, der einen durch den Film tragen könnte.
Detective Mills, gespielt von einem noch sehr jungen Brad Pitt, ist ein klassischer Widerpart. Unbeherrscht, selbstgerecht und ehrgeizig, jedoch auch intellektuell stark eingeschränkt in seinen Fähigkeiten. Aber gerade dieses Zusammenspiel zwischen den beiden Protagonisten bietet eine gewisse Dynamik, die nicht nur auf der Diskursebene wichtig ist, sondern eben auch für die Geschichte von zentraler Bedeutung ist. Mills hat die Welt bereits akzeptiert wie sie ist und versucht sich damit zu arrangieren, indem er schlicht Schlechtigkeit als Karrieremöglichkeit sieht.
Somerset hingegen lebt von einer Erinnerung an bessere Zeiten und von einem stets kleiner werdenden Glauben an das Gute und Gerechte, der ihn die Schlechtigkeit um ihn herum ertragen und klug und beherrscht analysieren lässt. Er bewahrt sich gewissermaßen eine Form oder auch Formelhaftigkeit, die ihn von seiner Umwelt abgrenzt. Dadurch wirkt er aber als der stabilere Charakter.
Als einzige Entsprechung trifft er auf die Verlobte von Detective Mills, die sich in der Welt, in die sie ihr Verlobter hineingezogen hat, nicht zurecht findet. Tracy erscheint als der unschuldige Engel, der keinen Kontakt zur Schlechtigkeit akzeptiert und isoliert und zerbrechlich da steht. Gwyneth Paltrow verleiht der Figur dabei die notwendige Melancholie und Zerbrechlichkeit, die Tracy schon vollkommen entrückt von ihrem Verlobten erscheinen lässt. Dieser ist natürlich durch seine Egozentrik nicht in der Lage, die Probleme seines blassen Frauchens zu erkennen oder zu akzeptieren.
Alle Rollen werden dabei überzeugend gespielt und gerade Brad Pitt ist dann am besten, wenn er einen Charakter mit Schwächen darstellen kann.
Die Inszenierung
Die düstere Optik verleiht "Sieben" teils schon fast einen comichaften Stil. Blaufilter, Dauerregen, eine ausgeklügelte Lichtdramaturgie in einigen Szenen...Pessimismus in filmischer Reinkultur! Fincher erweist sich als stilsicherer Optiker und schafft es, den Inhalt des Films technisch perfekt zu transportieren. Manchesmal wird vielleicht jedoch zu dick und kitschig aufgetragen.
Als Besonderheit fiel mir damals im Kino der Vorspann auf, der in seiner künstlerischen Ausgestaltung aufwändig und dramatisch inszeniert wurde. Bis heute oft kopiert und nie wirklich erreicht. Dazu noch ein Remix von Nine Inch Nails' "closer" und die morbide Stimmung ist perfekt. So gesehen ist die Atmosphäre von der ersten bis zur letzten Sekunde dicht, fesselnd und absolut stimmig. Wenn dann der Abspann verkehrt abläuft und David Bowies "The Hearts Filthy Lesson" einem das Ende des Films vorhält, erkennt man, wie ausgetüftelt und kreativ Fincher und sein Team über die wirkliche gesamte Laufzeit des FIlms vorgegangen sind.
Das Böse
Bei alledem darf man natürlich nicht vergessen, worum es denn überhaupt geht: die Verfolgung eines Serienmörders.
Ein Psychopath hat sich in der amoralischen Welt selbst zum christlich geprägten Richter erkoren, ganz dem Bild des amerikanisch-christlichen Fundamentalisten entsprechend. Mit Bezug auf die sieben Todsünden tobt sich dieser nun in aller Kreativität aus und setzt einen Plan zu Bestrafung um, der sich als Bogen von Anfang bis Ende durchspannt und alle zentralen Figuren miteinbezieht. Auch hier erweist sich "Sieben" als durchdachtes und spektakuläres Kino, das über eine enorme Spannungskurve verfügt, vor Schocks nicht zurückschreckt und sich in jedem Moment um das Gesamtprodukt bemüht. Der Clou, von einem investigativen Polizeifilm dann in einen offenen Schlagabtausch zwischen Psychopath und Polizisten zu wechseln, ist doch recht genial. Das alles ist so dermaßen überspannt und ausgeklügelt, dass der Zuschauer tatsächlich bis zum Schluss nicht ahnen kann, wohin die Reise geht. Man starrt nur noch neugierig auf die Leinwand, bis der bereits beschriebene Abspann einen mit dem Gefühl entlässt, doch tatsächlich einen sehr guten Film gesehen zu haben.
Fazit
"Sieben" ist nicht nur ein sehr guter Psychothriller, sondern auch ein insgesamt sehr guter Film, der durch seine Überzeichnung eine extrem dichte und pessimistische Atmosphäre aufbauen kann.Die Kreativität ist so manchesmal wirklich beeindruckend und auch verstörend. Die Inszenierung erweist sich als eigenständig und nicht wie ein Mischmasch aus bereits mehrfach Gesehenem und katapultierte Fincher zum Hoffnungsträger einer Kinoepoche. Dass dieser drei Jahre später an Genialität noch eine Schippe drauflegen sollte, konnte man trotzdem nicht erwarten. Dass diese Steigerung dann aber zunächst als Flop wahrgenommen wurde, lässt einen doch ungläubig den Kopf schütteln. Hätte Fincher "Sieben" nach "Fightclub" gedreht, wüsste ich, was er uns mit seinem düsteren und pessimistischen Thriller hätte sagen wollen...
"Und was haben sie doch für einen Spaß beim Ficken und beim Tanzen ... aber von guten Filmen kein bisschen Ahnung!"