Ellen Burstyn spielt die titelgebende Alice, deren deprimierende Ehe ein jähes Ende findet, als ihr Mann unverhofft verstirbt. Sie beschließt, nun wieder ihrem Kindheitstraum nachzugehen und als Sängerin zu arbeiten. Mit ihrem vorlauten Sohn macht sie sich auf den Weg nach Kalifornien, von wo sie ursprünglich stammt. Unterwegs steigt sie in billigen Motels ab, schlägt sich als Sängerin in einer Bar und als Kellnerin in einem Schnellimbiss durch.
„Alice lebt hier nicht mehr“ erschien 1974 zwei Jahre vor „Taxi Driver“ und sechs vor „Wie ein wilder Stier“, mit denen Martin Scorsese schließlich in die Top-Riege der Hollywood-Regisseure aufsteigen sollte. Obwohl der Film seinerzeit für mehrere Oscars nominiert wurde und Ellen Burstyn einen als beste Hauptdarstellerin einstreichen konnte, ist das Roadmovie ähnlich wie „King of Comedy“ eines der eher weniger beachteten Werke der Regie-Legende. Das ist verständlich, weil „Alice lebt hier nicht mehr“ bei Weitem nicht an die Meisterwerke Scorseses heranreicht und kaum die Handschrift des späteren Oscar-Gewinners erkennen lässt. Nichtsdestotrotz ist der Film in jedem Fall sehr solide.
„Alice lebt hier nicht mehr“, den man tendenziell auch als einen Frauenfilm bezeichnen könnte, wirkt, zumindest was den gesellschaftlichen Kontext angeht, fast wie ein Museumstück. Man sieht anfangs den Ehemann, der nicht will, dass Alice als Sängerin arbeitet, der seine Wutausbrüche nicht im Griff hat und Alice für die Frechheiten des Sprösslings verantwortlich macht, statt etwas zur Erziehung des Kindes beizutragen. Der zweite Mann, an den sie gerät, entpuppt sich als Ehemann und Vater. Als sie das herausfindet, droht er ihr, falls sie ihn versetzt. Und auch dem Dritten fällt es schwer gegenüber ihrem Sohn seine Wut unter Kontrolle zu halten. Ein Film also, dessen Männerbild sehr kritisch, aber mittlerweile weitgehend überholt ist. Zu den falschen Männern, welche die Protagonistin regelrecht anzuziehen scheint, kommen die dreckigen Motels, in denen sie absteigt, der permanente finanzielle Engpass, in dem sie sich befindet.
„Alice lebt hier nicht mehr“ ist dennoch eher Tragikomödie als Drama. Einerseits sind da die enttäuschenden Männerbeziehungen, andererseits sind da aber auch die zahlreichen freundlichen, teils auch witzigen Nebenfiguren, vor allem Alice` Kolleginnen und Kollegen im Schnellimbiss. Auch ihr etwas naiver Traum, als Sängerin doch noch den großen Durchbruch zu schaffen, steht in direktem Kontrast zu ihren eher deprimierenden Lebensverhältnissen. Etwas kurzweiliger und zudem leichter verdaulich wird der Film vor allem auch dank der teils witzigen Dialoge zwischen Alice und ihrem vorlauten Spross, die mitunter aber auch mal einer Sitcom zu entlaufen sein scheinen und nicht immer zur aktuellen Stimmung passen wollen. Insgesamt ist der Ton trotz des ernsten Themas so relativ locker und „Alice lebt hier nicht mehr“ recht kurzweilig.
Ein Meisterwerk ist Scorsese letztendlich aber nicht gelungen. Ähnliche Beziehungsmuster zwischen Alice und ihren Männern wiederholen sich im Verlauf des Films, selbiges gilt für die Gespräche mit dem Sohn. Überhaupt ändert sich im Verlauf des Films wenig an der Ausgangssituation, der Film tritt mitunter auf der Stelle, das klassische Grundproblem eines jeden Roadmovies, bei denen der Weg ja bekanntlich das Ziel ist. Scorsese legt zwar ein ordentliches Tempo vor, inszeniert versiert, zeigt ein gutes Händchen bei Auswahl der Musik, platziert den einen oder anderen Lacher und sorgt so für solide Unterhaltung, doch am Ende bleibt kaum eine Szene hängen, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt, kein echter Höhepunkt.
Lobend zu erwähnen sind sicherlich noch die Darsteller, vor allem Hauptdarstellerin Ellen Burstyn, die ihre Sache ausgezeichnet macht, aus heutiger Sicht aber vielleicht punktuell zum Overacting neigt. Den schmalen Grat zwischen Tragik und Komik beherrscht sie jedenfalls ausgezeichnet, mitunter tritt sie enorm selbstbewusst auf, um im nächsten Moment schon wieder sehr zerbrechlich zu erscheinen. Daneben gibt es eine herrlich brachiale Diane Ladd in einer eindrücklichen Nebenrolle zu sehen, einen sehr gelungenen Auftritt von Scorsese-Stammkraft Harvey Keitel sowie die späteren Hollywood-Stars Jodie Foster und Kris Kristofferson in ihren frühen Rollen.
Fazit:
„Alice lebt hier nicht mehr“ ist eine unterhaltsame Mischung aus Tragikomödie und Roadmovie, durchweg unterhaltsam und von einer überzeugenden Ellen Burstyn getragen. Ein Meisterwerk ist Scorsese mit seinem mitunter auf der Stelle tretenden Frühwerk jedoch nicht gelungen, außerdem ist insbesondere das Familien- und Männerbild des Films deutlich aus der Zeit gefallen. Möglich, dass der Film den Geschmack des weiblichen Publikums stärker bedient.
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