„Glück...? Scheiße!“
Für seinen zweiten abendfüllenden Spielfilm tat sich US-Ausnahmeregisseur Martin Scorsese nach „Wer klopft denn da an meine Tür?“ mit Low-Budget-, B-Movie- und Exploitation-Produzent Roger Corman zusammen: „Boxcar Bertha – Die Faust der Rebellen“ aus dem Jahre 1972 basiert auf der (frei erfundenen) Autobiografie „Sister of the Road: The Autobiography of Boxcar Bertha“ des US-amerikanischen Autors, Arztes und Anarchisten Ben Reitmann – und wurde im Prinzip genau das, was man erwarten darf, wenn Scorseses Anspruch auf Cormans Produzentenformel trifft.
„Schlimm genug, dass er ein Bolschewik ist – aber dass er einem Nigger die Hand schüttelt, das geht zu weit!“
Zur Zeit der Großen Depression in den USA, genauer: im Arkansas der 1930er Jahre freundet sich die 16-jährige Waisin Bertha (Barbara Hershey, „Fünf Finger geben eine Faust“) mit dem Schwarzen Von Morton (Bernie Casey, „...tick... tick... tick“) und dem kämpferischen Eisenbahngewerkschafter „Big“ Bill Shelly (David Carradine, „Kung Fu“) an, der von Extremisten gejagt wird. Big entjungfert sie in einem Eisenbahnwaggon und verschwindet danach, lässt ihr jedoch etwas Geld da, das sie beim Glücksspiel vermehrt. Dabei lernt sie Rake Brown (Barry Primus, „Manfred von Richthofen – Der rote Baron“) kennen, mit dem sie eine Liaison eingeht. Beim Poker jedoch spielt Rake ein falsches Spiel und gerät in eine gefährliche Auseinandersetzung, aus der Bertha ihn rettet, indem sie seinen Kontrahenten erschießt. Auf der Flucht springen sie in einen fahrenden Güterwaggon, wo Bertha wieder auf Big trifft, dem eigentlich ihr Herz gehört. Nachdem die Polizei das Trio geschnappt hat, kann Bertha fliehen, die anderen beiden landen bei Zwangsarbeit im Gefängnis. Dort werden sie Zeugen eines Massakers, angeordnet von Bahnchefs Sartoris (John Carradine, „Die Schreckenskammer des Dr. Thosti“). Bertha befreit ihre Freunde und gemeinsam nimmt man den Kampf gegen den faschistischen Kapitalisten und Mörder Sartoris auf…
„Dieses Leben geht einem langsam an die Nieren!“
Anarchische Outlaws im Klassenkampf inmitten der Wirtschaftskrise: Diese Corman-Produktion ist deutlich von „Bonnie und Clyde“ inspiriert, in derselben zeitgeschichtlichen Ära angesiedelt, gleichwohl plakativ politischer – und hat Sex! Bertha zeigt sich splitterfasernackt, falsche Scham ist ihr fremd. Auch wenn sie zeitweise als Prostituierte arbeitet, wirkt ihr Umgang mit Sexualität wie ein Teil ihrer Rebellion gegen das verkommene, hundsgemeine und mörderische Establishment. Ihr Vater kommt im Prolog bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, wodurch das Leben sie vor Herausforderungen stellt, die sie annimmt und sich mit aller gegebenen Härte durchboxt. Im Vorspann untergemischte zeitgenössische Schwarzweißbilder aus den 1930ern erfüllen ihren Zweck als Authentisierungsmaßnahme, US-Südstaaten-Fidel- und Mundharmonika-Musik dient der Lokalisierung. Das Ensemble ist so etwas wie eine Carradine’sche Familienunternehmung, denn David, der hier an der Seite seines Vaters John spielt, und Hershey waren seinerzeit auch in der Realität miteinander liiert. Zudem sind David Carradine und Barbara Hershey ihre rebellischen Rollen wie auf den Leib geschneidert, galten sie doch als Symbol für die Gegenkultur in Hollywood.
„Ich bin kein Krimineller, ich bin ein Arbeiter!“
„Boxcar Bertha“ greift im Speziellen den Gewerkschaftskampf gegen das skrupellose, ausbeuterische Großkapital auf, thematisiert aber auch die extrem antisozialistische Stimmung im Süden der USA und sowohl Polizeibrutalität und Rassismus als auch die Rolle der Presse, die volle Pulle mit ins Hetzjagdhorn bläst. So gelang Scorsese ein wütender, aber gerechter Rundumschlag, der unter Cormans Ägide statt auf Tiefgang in der Figurenzeichnung auf Unterhaltsamkeit ausgerichtet wurde und deshalb bis zu seinem ultrabrutalen Ende (eine weitere „Bonnie und Clyde“-Parallele) rockt, das seinen Rezipientinnen und Rezipienten nur scheinbar die Katharsis vorenthält.
„Einem Bullen darfst du kein Wort glauben.“
Der Katholik in Scorsese lässt im superzynischen, religiös konnotierten Schlussmotiv kräftig grüßen, bevor ein Film sein Ende findet, der Scorsese retrospektiv angeblich gar nicht mehr sonderlich gefällt, ein Genre- und Corman-Film-geeichtes Publikum aber umso mehr ansprechen dürfte.