Ich hab's nicht so mit Anime. Pokemons, Sailor Moon, Naruto, Cosplaygedöns ... das sind die Irrungen der heutigen jungen Generation, die Japan auf ihre Art und Weise in sich aufgesogen hat, wie wir seinerzeit mit Elektrogeräten, als diese noch nicht aus China kamen. Nee, Anime sind nicht meine Welt, ich bin mit anderem aufgewachsen. Wickie, Heidi, Kimba, Captain Future... huch? Wie dem auch sei: Da muss Chihiro schon auf Arte laufen, dass sich ein Cel das einmal ansieht.
Und anhört. Denn noch einen Wimpernschlag vor den ersten Bildern setzen die melancholischen Klaviertöne der meisterhaften Filmmusik von Joe Hisaishi ein, die den Zuschauer in die träumerisch-traurige Stimmung der kleinen Chihiro versetzen, die durch einen Umzug ihr altes Zuhause, ihre Schule, ihren Freundeskreis verloren hat und nun mit wenig Schwungkraft und noch weniger Begeisterung einer ungewissen Zukunft entgegengeht.
Inhaltlich verweise ich am besten auf Apollon....
... und gehe auf zwei von anderen Bewertern geäußerte Kritikpunkte ein.
A: „Zu bemängeln gibt es aber noch einige andere Aspekte, angefangen bei Chihiro. Das Mädel nervt in der ersten halben Stunde dermaßen, dass einem das Zusehen keinen Spaß mehr macht. Andauernd muss sie kreischen und in unsinnigen Situationen hat sie plötzlich Angst, z.B. wenn sie am Eingang einer Höhle steht."
B: „Wie Chihiro auf einmal ins Zauberland gelangt, bleibt bis zum Schluss unklar."
Diese beiden Kritikpunkte hab ich überprüft. Tatsächlich nimmt Chihiro schon vor dem Tunnel wahr, dass sich dahinter etwas Unheimliches verbirgt. Sie ist nervös, unwillig, will wieder weg, fürchtet sich. Das Schöne ist: Miyazaki lässt hier nicht nur die Eltern ahnungslos, sondern auch uns Zuschauer. Chihiro, die hier zickt und nervt, ist tatsächlich die einzig Schlaue. Noch im Tunnel, der einen Saal mit Bahnhofscharakter beinhaltet, hören alle drei jenen (Geister-)Zug, der auch noch nach dem Film ein Rätsel bleiben wird. Sie sind also schon im Tempel/Tunnel in jener Geisterwelt. Dort werden die Eltern dann durch leckere Düfte an ein Büffet in einem leeren Dorf gelockt und sind von Anfang an willenlos ihren Gelüsten ausgeliefert. Spätestens als sie den ersten Bissen angerührt haben, ist ihnen auch die letzte Entscheidungsgewalt genommen.
Ein paar Dinge, die mir gefallen haben:
- Der Audi von Chihiros Familie, und dass er die einzige westliche Anleihe im gesamten Film geblieben ist.
- Filmmusik, vor allem das melancholische „One Summer's Day" zu Beginn, das atemberaubend-bombastisch-majestätisch-pompöse „Procession of the Spirits" bei Ankunft der Fähre und das sehnsuchtweckende „The Sixth Station" bei der Zugreise.
- tolle, detailreiche Bilder, beeindruckende Atmosphäre
- starke deutsche Synchronisationsstimme bei den beiden Hexen. Hab ich erst nachher gelesen, wer das war. Brrrrrrravo! Respekt!
- Ein schöner Einblick in die japanische Kultur des Shintoismus, der auch Flüssen, Bergen, Seen, Wäldern einen Geist, eine Seele oder einen Gott beimisst, bzw. eine Mischung aus alldem. Hier treffen sich die „Kami" in einem Badehaus, und der Junge Haku ist trotz menschlicher Gestalt einer von ihnen, nämlich der Kami eines Flusses.
- die Ambivalenz der Charaktere, die nicht einseitig gut oder böse sind
- die behutsam vorgetragenen Kritiken, u.a. etwa an Umweltverschmutzung (Flussgott), Naturverbauung (Haku), Materialismus (Chihiros Eltern und die ganze Badehausgesellschaft), Kinderverhätschelung (Yubabas Baby, das aus Angst vor Bazillen nur im Kinderzimmer aufwächst) - das alles ohne erhobenen Zeigefinger
- Die ruhigen Momente im Film, der nicht nur mit Handlung überladen ist sondern auch mit kleine Pausen dafür sorgt, dass man Gesehenes verarbeiten und Bilder einfach mal auf sich einwirken lassen kann
- Die wohldosierte Wärme und Herzlichkeit, die nicht nur Chihiro gut tut ;o).
Für mich ein klarer 10er. Es ist nicht so, dass ich nur 10er und 1er verteile, sondern dass ich bevorzugt 10er und 1er kommentiere, weil ich da mit Herzblut bei der Sache bin. Hier also die volle 10 eines Nicht-Genre-Fans. Und das wandelnde Schloss, Mononoke, das Schloss in den Wolken und selbst der wirklich wundervolle Totoro: Sie alle wecken bei mir nicht ansatzweise die Begeisterung, die ich für Chihiros Reise empfinde.