Obwohl "Reifezeugnis" nicht an erster Stelle steht, was Einschaltquote und absolute Zuschauerzahlen angeht, ist er heute der doch vielleicht berühmteste Beitrag zur "Tatort"-Reihe. Dank Nastassja Kinski, wie es immer wieder heißt. Wie? Die allein hat dann diesen Tatort auf den ewigen Platz zwei gewuppt?
Man könnte meinen, das stimmt: Im Vergleich zu den anderen Finke-Krimis bleibt der Ermittler hier noch mehr im Hintergrund. Nun war der kleine Kommissar ja noch nie die Rampensau in der morastigen deutschen Fernsehlandschaft der Siebziger, aber hier spielt er eine schon sehr kleine, wenn auch natürlich wichtige, Rolle. Aber so ganz stimmt das dann doch wieder auch nicht:
"Reifezeugnis" lebt hauptsächlich von seinen Figuren und deren Psychogrammen, die hier tatsächlich so interessant ausfallen, dass der Mord recht weit in den Hintergrund rückt. Zumal man hier auch wirklich den Täter von der Tat an kennt. Somit geht es hier nicht um die Detektion, sondern um die Täterin und die Gesamtsituation, in der sich diese mit ihrem Liebhaber bewegt. Klingt jetzt auch nicht wirklich so spannend, dass es die Quoten und die Reputation erklären könnte. Aber ein solch früher "Tatort" wäre ja auch nichts ohne blanke Brüste, und so muss eben diesmal die minderjährige Kinski herhalten. Skandalös! Also ist Folge 73 eine Art Lolita-Lehrer-Brüste-Drama geworden, das über die gesamte Zeit von beachtlichen schauspielerischen Leistungen getragen wird, denn wir dürfen bewundern:
-Christian Quadflieg als schleimig-sentimentalen Lüstling Fichte, der ganz offenbar ein Faible für knackige und unschuldige bis naiv-dümmliche Schülerinnen hat und selbst jede geistige Reife vermissen lässt.
-Judy Winter als Lehrerfrau in Kenntnis, die beinahe zwanghaft ihre Ehe retten will, dabei doch etwas selbstvergessen agiert, aber letztlich als moralische Siegerin vom Platz gehen darf. Sie gleicht gewissermaßen die fehlende Reife ihres dumpfbackigen und triebhaften Mannes wieder aus.
-Nastassja Kinski, die ihre Rolle als endpubertierende Tochter aus gutem Hause in all ihrer Naivität und hormonellen/biederen Übersteuerung schon sehr gut verkörpert.
-Mmmh, das wars. Über die anderen Rollen muss man hier kaum reden, auch wenn es viele weitere bekannte Gesichter gibt.
Starke Momente
Nach getätigtem Liebesakt liegt Lehrer Fichte noch danieder und die Lolita doziert über die gemeinsame Zukunft und redet haarebürstender Weise von einer gemeinsamen Tochter, die dann in fernerer Zukunft mit vier Jahren in der Sonne im Garten spielt und eine rote Schleife im Haar hat. Ich stelle mir vor, dass der gute Lehrer Fichte während dieser Ausführungen hektisch versucht, sich hinter dem Rücken der solch furchtbare Dinge von sich gebenden Göre die Pulsadern an der Bettkannte aufzurubbeln. Aber der sitzt da, hört mit diesem verträumten Lächeln zu und man möchte gerne kotzen.
Merkwürdige Angelegenheiten
In dieser Folge spielt ein Vergewaltiger eine Rolle, der immer in grüner Kluft Frauen überfällt. Also zieht der Mann sich vor einer Vergewaltigung erstmal um und steigt in seinen "Arbeitsanzug"...merkwürdig... Aber: Man steckt einfach nicht drin!
Der beste Dialog
Kommt von der überführten Mörderin Sina, die mit der Pistole ihres Vaters (Damals hatten ALLE Väter ein frei zugängliche Schusswaffe in ihrem Sekretär, selbst wenn sie gar keinen Sekretär hatten!) am See Selbstmord begehen wollte:
"Sie ist kaputt. Sie geht nicht, sie geht einfach nicht!
Ich war auch im Wasser - aber ich kann ja schwimmen!"
Selbstmord...gar nicht so einfach. Schon fast wieder niedlich, das Ganze. Ich hätte mir zum Schluss allerdings weniger den sehr strengen und strafenden Blick Finkes auf den Lehrer Fichte gewünscht, sondern vielmehr folgenden Dialog zwischen den beiden:
Finke (sich an Lehrer Fichte wendend): "Tja, das Fäulein hatte die Waffe gar nicht entsichert. Gottseidank ist sie nicht die Hellste!"
Fichte (den anderen mit dem Kommissar langsam folgend): "Ja, aber dumm fickt gut!"
Und beide gehen lachend und schulterklopfend von dannen.
Da dies freilich nur eine Wunschvorstellung ist, muss man mit "Reifezeugnis" eben leben, wie er ist. Und dabei muss man auf die erwähnten Vorzüge dieses Dramas verweisen, das schauspielerisch auftrumpfen kann, jedoch kein bisschen Action oder typische Krimispannung bietet. Aber damit geht es ja vielleicht bald wieder bergauf, denn
Commissario Finkecento will return in
"Himmelfahrt"