Review

Die im Jahre 2009 erschienene Verfilmung des gleichnamigen schwedischen Bestsellers Stieg Larssons entstand in schwedisch-dänisch-deutscher-Koproduktion, Regie führte der Däne Niels Arden Oplev („Der Traum“). Die Literaturvorlage ist mir zwar unbekannt, jedoch habe ich einen groben Überblick über die Unterschiede zur Verfilmung erhalten. Erwartungsgemäß wurde der Stoff gestrafft und abstrahiert, was aufgrund seiner Komplexität bitter nötig erscheint: So bringt es selbst die von mir gesehene Kinofassung auf fast zweieinhalb Stunden Spielzeit. Die Handlung des im Schweden der Gegenwart spielenden Thrillers lässt sich grob wie folgt umreißen:

Enthüllungsjournalist Mikael „Kalle“ Blomkvist (Mikael Nyqvist), Herausgeber des Magazins „Millennium“, tappt in eine von falschen Informanten aufgestellte Falle und verliert aufgrund gefälschter Beweise vor Gericht gegen den kriminellen Großunternehmer Wennerström. Er wird wegen Verleumdung zu drei Monaten Haft verurteilt. In der Zeit zwischen Urteil und Haftantritt bittet ihn der Großindustrielle Henrik Vanger (Sven-Bertil Taube), den Auftrag anzunehmen, nach dessen vor 40 Jahren verschwundenen Nichte Harriet zu suchen. Widerwillig nimmt Blomkvist den Job an und bekommt unerwartet Hilfe von der bei einer Detektei angestellten Hackerin und Punkette Lisbeth Salander (Noomi Rapace), die zuvor bereits Blomkvists Integrität im Auftrage Vangers überprüfte. Die individualistischen Charaktere – beide intelligent, bindungsunfähig, schroff, direkt und provokant, sie jedoch verschlossen, introvertiert, abweisend und ihr Punk-Outfit als Schutzpanzer gegen die Gesellschaft verwendend, er hingegen extrovertiert und die Öffentlichkeit suchend – nähern sich einander vorsichtig an und stoßen auf ein düsteres Familiengeheimnis des Vanger-Klans…

„Verblendung“ zeichnet ein düsteres Bild der schwedischen Gesellschaft, in der Altnazis ungesühnt ihrer Lebensabend verbringen und Wirtschaftskriminelle über die Macht verfügen, ihrerseits unliebsame Zeitgenossen hinter Gitter bringen und mundtot machen zu können und es sich außerhalb der Legalität bewegender Praktiken wie Computer-Hacking u.ä. bedarf, um ihnen das Handwerk zu legen, da die staatlichen Instrumente nicht greifen. Die Polizei ist hilflos und unfähig. Beziehungsunfähigkeit und perverse sexuelle Abartigkeiten innerhalb einer entsolidarisierten Gesellschaft, hinter deren Türen das Grauen lauert, ziehen sich durch den gesamten Film. In tristen, verregneten Aufnahmen der sterilen Großstadt und skandinavischer Dorflandschaften gleichermaßen erzählt Oplev die Geschichte, die die beiden zunächst voneinander unabhängigen Ebenen der journalistischen und ermittelnden Tätigkeiten Blomkvists und der undurchsichtigen Persönlichkeit Salanders, deren Leben gezeichnet ist von einer vermasselten Kindheit und dem berechtigten Misstrauen gegenüber Autoritäten, zusammenführt. Dabei erscheint Lisbeth zunächst weder sonderlich sympathisch, noch erotisch, was sich mit dem zunehmenden Kennenlernen ihrer Persönlichkeit jedoch im weiteren Verlauf ändert.

Noomi Rapace liefert eine beeindruckende, den Zuschauer gefangennehmende schauspielerische Leistung ab, so dass man bald danach giert, mehr über dieses faszinierende Wesen zu erfahren. Mit Hintergrundinformationen zu Lisbeths Leben hält sich „Verblendung“ jedoch bedeckt, vereinzelte Szenen aus ihrer Vergangenheit lassen jedoch erahnen, was sie zu dem machte, was sie heute ist. Der äußerst beklemmend inszenierte Missbrauch durch den ihr aufoktroyierten Vormund sowie die folgende Vergeltung vermitteln einen Einblick in den andauernden Kampf, als den sie gezwungen ist, ihr Leben zu führen. Der über 40-jährige Blomkvist wird souverän von Mikael Nyqvist verkörpert und ordnet sich in seinen Leistungen dem realistischen Stil des Films unter. Blomkvist ist verglichen mit Salander der weniger interessante Charakter, jedoch ebenfalls weit von einem wandelnden Klischee entfernt. Er beherrscht ebenso wie jeder andere in diesem Film die leiseren Töne und versteht es, frei von Overacting seine sparsam eingesetzten Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Generell spielt hier jeder Beteiligte seine Rolle überzeugend und glaubwürdig, niemand fällt negativ aus der Rolle. Nahezu alle stärker am Geschehen Beteiligten erscheinen auf ihre Weise vom Leben gezeichnet, jedem traut man diverse Leichen im Keller zu.

Die sich in der Überlange niederschlagende Komplexität erfordert Konzentration seitens des Publikums und befriedigt dieses gleichzeitig mit einer intelligent konstruierten Handlung, die mit religiös angehauchten Motiven und Bibelzeiten einen zusätzlichen religionskritischen Subtext einführt. Die Entwicklung der Handlung ist kaum vorhersehbar und dramaturgisch so spannend umgesetzt worden, dass sie sich der Aufmerksamkeit des interessierten Zuschauers gewiss sein kann. Beachtlich ist dabei die Zeit, die man sich nahm, um die Atmosphäre des Films zur vollen Entfaltung zu bringen, seine Charaktere einzuführen und sich die Geschichte in einem angenehmen Tempo entwickeln zu lassen, ohne die Ereignisse zu überstürzen. Langeweile indes kommt dabei zu keinem Zeitpunkt auf, gebannt folgt der Zuschauer dem Geschehen und achtet auf Details, um ja nichts zu versäumen. Auf jeglichen Pathos und Bombast, wie man ihn aus dem „Blockbuster“-Kino kennt, wird dankenswerterweise verzichtet.

Besonders interessant empfand ich den Umgang mit aktuellen Medien und moderner Technologie: Während in anderen Filmen das Internet höchstens für Google-Recherchen genutzt wird und sich jeder, der sich darüber hinaus mit Computern auskennt, verschrobener Weltfremdheit verdächtig macht, ist der PC in „Verblendung“ ein mächtiges und cooles Werkzeug, ein äußerst hilfreiches Instrument, mit dem sich auszukennen lohnt. Lisbeth Salander ist eben kein pickliger Computerfreak, sondern eine respekteinflößende, inspirierende Persönlichkeit mit Vorbildfunktion für jüngere Zuschauer. Leider versäumte man es, etwas Zeit dafür aufzuwenden, glaubhaft darzustellen, wie Lisbeth es schafft, sich der Daten anderer Rechner zu bedienen. Ich weiß, dass dies im Buch ausführlicher und realistischer beleuchtet wurde; hier jedoch wirkt es wie blindes Vertrauen in die Fähigkeiten von Hackern seitens des Drehbuchs – als könne man, entsprechende Fachkenntnis vorausgesetzt, mir nichts, dir nichts die Hoheit über fremde Festplatteninhalte gelangen, sobald der Besitzer nur den Rechner einschaltet.

Bisweilen erinnert mich „Verblendung“ bei allem skandinavischen Lokalkolorit dann doch an US-Großtaten wie „Sieben“ (im Hinblick auf die religiös motivierten Morde), „Das Schweigen der Lämmer“ (bezogen auf das anfänglich von Distanz und Faszination gleichermaßen geprägte Verhältnis zwei vordergründig unterschiedlicher Charaktere zueinander) oder „Roter Drache“ (großflächige Rückentätowierungen in Drachenform, vermutlich als eine Art kraftspendende Katharsis), was ich als Kompliment verstanden wissen möchte. „Verblendung“ beschreitet dabei dramaturgisch einen anderen Weg, indem er weniger auf nervenzerfetzende Suspense-Szenen als Klimax hinsteuert, sondern seinen Spannungsbogen konstant über Null hält, ohne stark nach oben oder unten auszuschlagen. Sozusagen weniger eine Spannungskurve als mehr eine Spannungsgerade. Ob dieser Umstand positiv oder negativ aufgefasst wird, hängt vermutlich stark von den Sehgewohnheiten des jeweiligen Rezipienten ab. Als irritierend empfand ich bei aller Begeisterung allerdings eine für meinen Geschmack etwas aufgesetzt und erzwungen wirkende Sexszene und, was schwerer wiegt, das angesichts des über weite Strecken allgegenwärtigen Drecks und Sündenpfuhls doch etwas zu unbeschwerte Happy End. Zudem wäre ein prägnanterer Soundtrack mit höherem Wiedererkennungswert wünschenswert gewesen. Schön wiederum, dass man trotz des Kontrastprogramms eine Reminiszenz an Astrid Lindgren („Pippi Langstrumpf“, „Wir Kinder aus Bullerbü“) in Form von Mikaels Spitznamen unterbrachte.

„Verblendung“ ist ein harter, von Hass, Sadismus, psychischen Abgründen, gebrochenen Persönlichkeiten und einer niemals ruhenden Vergangenheit geprägter nordeuropäischer Thriller und Trilogie-Auftakt auf hohem Niveau, der in trüben Grauzeichnungen die biedere Fassade des Bürgertums und des Kapitals einreißt und mit Lisbeth Salander einen neuen, begeisternden Typus der (Anti-)Heldin etabliert. Modern und dabei angenehm frei von Trends und Modeerscheinungen, dadurch gewiss ein zukünftiger Klassiker.

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