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Auf einem Güterzug, der illegale Immigranten durch Mexiko transportiert, prallen zwei Schicksale aufeinander: Willy, Mitglied einer brutalen Gang, der die allgegenwärtige Gewalt nicht mehr ertragen, den Bandenchef umgebracht hat und nun auf der Flucht vor der Rache seiner ehemaligen Kameraden ist; und Sayra, die mit Vater und Onkel auf dem Weg in die USA ist, um zu ihrer bereits dort lebenden Familie zu gelangen. So unterschiedlich die beiden sind, finden sie doch zueinander und beschließen, sich gegenseitig auf dem gefahrvollen Weg zu helfen.

„Sin Nombre“ ist ein Genrefilm, der sein Sujet nutzt, um Einblicke in die prekäre Situation armer Menschen in Mittelamerika zu ermöglichen. So mäandert er inhaltlich gekonnt zwischen brutalem Gangster-Thriller und eindringlichem Sozialdrama, das schonungslos, aber auch ohne Pathos die Lebensrealitäten der Menschen am unteren Rande der Gesellschaft zeigt, die schließlich keinen anderen Ausweg mehr als den illegalen Grenzübertritt sehen. Der vollbesetzte Güterzug, auf dem ein großer Teil der Handlung spielt, ermöglicht dabei, eine ganze Reihe verschiedener Situationen zu eröffnen: von Überfällen, bei denen selbst diesen Ärmsten noch die letzte Habe geraubt wird, über Dorfbewohner, die den Vorbeifahrenden Obst hinaufwerfen, zu mexikanischer Polizei, die auch nicht davor zurückschreckt, Menschen von den Wagen herunterzuschießen. Die Brutalität, existenzielle Unsicherheit und permanente Gefahr, der sich diese Menschen aussetzen, wird hier hautnah inszeniert und macht eindringlich klar, von welchen zwischenmenschlichen Extremen eigentlich gesprochen wird, wenn über diese Einwanderer diskutiert wird. Dass der Film dabei kein einziges Mal den moralischen Zeigefinger erhebt, sondern einfach zeigt, was ist, macht seine indirekte Botschaft umso intensiver.

Wobei ihm natürlich auch hilft, dass er sich insgesamt doch eher am Genrefilm orientiert. Das gewalttätige Gangleben wird ebenso hart und rau dargestellt, der impulsive Ausbruch Willys nach einer persönlichen Tragödie und die darauf aufbauende Verfolgungsgeschichte bedienen grundsätzlich längst bekannte Storymotive, werden hier aber durch die ungewohnte Umgebung und die wie nebenbei eingestreuten sozialen Härten neu eingekleidet. Verfolgungs- und Schießereisequenzen bleiben realitätsnah und formal unspektakulär, erzeugen aber gerade dadurch ein hohes Maß an Spannung. Dazu trägt auch der gebrochene Hauptcharakter bei, der mit seiner eigenen Schuld zu ringen hat und mehr schlecht als recht in ein neues Leben zu fliehen versucht. Das intensive Spiel der beiden Hauptdarstellenden macht den Film erst so richtig packend und verleiht ihm bis zum (leicht vorhersehbaren) tragischen Finale eine dichte Atmosphäre der Gehetztheit.

Inszenatorisch wird das alles souverän umgesetzt. Die Kamera bleibt dicht an den Figuren, bricht in einzelnen Szenen in wackelige Handkameramomente aus, bleibt meist aber ruhig und beherrscht und findet eine faszinierende Bildsprache zwischen Schönheit der Umgebung und Düsternis der Ereignisse. Der Score ist nicht zu aufdringlich, kann zugegebenermaßen aber auch nicht wirklich bestechen; ebenso wie das ganze Setting mitunter einen Hauch zu viel künstlicher Kulisse verrät – Kleidung und Gesichter bleiben zu sauber, die improvisierten Schlafplätze der Immigranten nicht unordentlich genug. So verrät sich eben doch die Orientierung an Gangsterfilmen und nicht an Sozialdramen.

Dennoch überzeugt „Sin Nombre“ als spannender Mix aus blutiger und tragischer Gangster- und Moralgeschichte und eindrücklichem Drama über die unglaublichen Gefahren und Herausforderungen, denen sich Menschen auf ihrer verzweifelten Suche nach einem besseren Leben entgegenstellen. Ein Film, der gekonnt zwischen Arthouse und Unterhaltungskino pendelt und dabei das Beste von beiden Seiten vereint.

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