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Weil er nicht mit ansehen kann, wie sein Boss Lil’ Mago (Tenoch Huerta) ein Mädchen vergewaltigt, erschlägt El Caspar (Edgar Flores) diesen spontan mit seiner Machete. Diese Tat ist sein Todesurteil, denn er gehört der mexikanischen Gang "La Mara Salvatrucha" an, deren Mitglieder über ganz Mexiko verstreut sind. Während er seinem Tod entgegen sieht, ohne zu wissen, wann dieser ihn ereilen wird, schließt sich ihm Sayra (Paulina Gaitan) an, die er zuvor gerettet hatte. Sie war gemeinsam mit ihrem Vater auf dem Weg von Honduras in die USA, um dort schwarz über die Grenze zu gelangen, aber sie glaubt, bei El Caspar sicherer aufgehoben zu sein.

"Sin nombre" entwickelt seinen Plot nach klassischen Thriller – Regeln, aber der amerikanische Regisseur und Autor Cary Fukunaga, selbst Kind von Migranten, benötigte nur wenige Federstriche, um diesen Plot der Realität abzugewinnen. Da ist ein Vater, der nach vielen Jahren wieder in seine honduranische Heimat kommt, weil er aus den USA ausgewiesen wurde. Wie hunderttausende Migranten jedes Jahr, versucht er auf beschwerlichem Weg wieder dorthin zurückzukehren und nimmt seine jugendliche Tochter Sayra mit, die lieber in ihrer Heimat geblieben wäre. Und da ist Willi, Gangname "El Caspar", der schon einige Jahre Mitglied der Maras ist, aber den Fehler macht, sich in ein Mädchen aus einem falschen Stadtteil zu verlieben. Weil dort eine gegnerische Gang das Sagen hat und er zudem seine Pflichten vernachlässigt, wird er von den anderen Mitgliedern bestraft. Die Prügel, die er einstecken muss, sind noch erträglich, aber seine Freundin überlebt die Auseinandersetzung nicht.

Cary Fukunaga verknüpft geschickt zwei Handlungsstränge miteinander, die scheinbare Antipoden aufeinander treffen lassen. Hier die Migranten, schutz- und mittellos auf einem Weg, der oft mit dem Tod oder der Festnahme durch die Polizei endet, dort das skrupellose Gang - Mitglied, für den es zum Aufnahmeritual gehört, einen Feind zu töten. Durch El Caspars spontane Tat kommt es zur Begegnung zwischen ihm und dem honduranischen Mädchen, aber es ist ein Missverständnis, dieses Zusammenkommen als Liebesgeschichte zu betrachten. Nicht die Rettung Sayras steht im Vordergrund seiner Intention, sondern dass sein Boss zuvor seine Freundin ermordet hatte. Sayras Annäherung dagegen entspringt zuerst der Dankbarkeit für ihre Rettung, dann schlicht einem Erhaltungstrieb, der in ihm den geeigneten Begleiter sieht. Dass sie dabei auch Emotionen zeigt, ist glaubwürdig, genauso wie er diese nie erwidert, da seine Gefühle noch ganz bei seiner toten Freundin sind.

Letztlich treten sämtliche Ereignisse in den Hintergrund, denn alle Protagonisten – egal ob Migranten oder Gang-Mitglieder – unterstehen ehernen Regeln, die ihr Leben bestimmen. Es ist nur konsequent, dass sich der Film wenig mit den Hintergründen der Akteure befasst, genauso wie er den Tod in einer Unmittelbarkeit eintreten lässt, der seine Normalität unterstreicht. „Sin nombre“ ist keine Charakterstudie und beschäftigt sich auch nicht mit den einzelnen Bedürfnissen der Menschen, denn für Individualität gibt es hier keinen Raum. Jeder muss sich den Gesetzmäßigkeiten unterwerfen, sei es um als Migrant eine Überlebenschance zu haben, sei es, um ein wenig Anerkennung innerhalb einer Sozialisation zu erhalten, die nur Demjenigen zuteil wird, der Macht zu besitzen scheint.

Dass diese inneren Gesetze sich immer wieder bestätigen und erneuern - wie der Film am Beispiel des 12jährigen „El smiley“ demonstriert - ist gar nicht die eigentliche Perversität, sondern die Frage, warum Niemand daraus ausbricht, obwohl Viele darunter leiden?
Durch den Charakter eines spannenden, abwechslungsreichen Thrillers, die sehr schönen Bildeinstellungen und sympathischen Hauptdarsteller, stellt sich diese Frage nur unterschwellig. Dabei beantwortet sie der Film schon in seiner ersten Einstellung, wenn sein Blick auf einen wunderschönen Herbstwald fällt. Doch dabei handelt es sich nur um eine Fototapete, die im Gegensatz zu ihrem heruntergekommenen Umfeld steht. Erst die letzte Einstellung vermittelt wieder eine ähnliche Sauberkeit und Ordnung und verdeutlicht damit den wachsenden Unterschied zwischen zwei Welten, von denen sich die Eine zunehmend abschottet, während die Andere ihre Bewohner in eine Spirale der Selbstzerstörung zwingt (8/10).

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