Review

  „It´s a Man(n)´s World"

Michael Mann ist ein Besessener, ein positiv Verrückter.  Jedem seiner Filme geht eine umfangreiche, akribische Recherche voraus. Stets betreibt er genaueste Milieustudien, interviewt Hunderte von Personen und geht - nur mit einer Kamera bewaffnet - wochenlang auf die Jagd nach geeigneten Locations. Für seine Charaktere verwendet er häufig reale Personen und eigene Erlebnisse. Auch von seinen Darstellern verlangt er diese Realismus-Besessenheit. So schickte er beispielsweise Daniel Day Lewis auf eine mehrmonatige Fitnesstortur, bei der der Schauspieler unter anderem wochenlang im Wald lebte und sich lediglich von Beeren ernährte. Lewis dankte es ihm mit einer Ausnahmeleistung als von Indianern großgezogener Waldläufer in Der letzte Mohikaner. Jamie Foxx verbrachte viel Zeit mit Taxifahrern für seine Rolle in Collateral. Al Pacino war bei mehreren Einsätzen des LAPD dabei, um sich auf seinen düsteren Part als Vincent Hanna in Heat vorzubereiten.

Vielleicht ist es diese leidenschaftliche Akribie, die seine Filme so schonungslos realistisch wirken lässt. Seine Großstadtthriller Heat, Collateral, Insider und Miami Vice lassen den Zuschauer den ganzen Facettenreichtum des inhomogenen Schmelztiegel-Molochs Los Angeles oder die fiebrig-schwüle Atmosphäre der heimlichen Hauptstadt Floridas beinahe physisch erleben. Der totale Realismusanspruch Manns ist vor allem bei geschichtlichen Stoffen eine enorme Herausforderung. Trotz der unhistorischen literarischen Vorlage James Fenimore Coopers, gelang Mann mit Der letzte Mohikaner die bis dato akkurateste und glaubwürdigste filmische Darstellung der Frontier-Zeit. Hier stimmt jedes noch so kleine Detail, vom Indianerschmuck über Alltagsgegenstände bis hin zu sämtlichen Waffen. Auch bei Ali zahlte sich Manns Perfektionismus aus. Nicht nur trifft er genau Zeitgeist und Atmosphäre der gesellschaftspolitisch aufgeheizten Dekade von 1964-74, sondern auch Will Smiths einjährige Metamorphose (neben einem intensiven Box- und Krafttraining studierte er akribisch Alis Sprachduktus sowie dessen zahlreiche Manierismen) schaffte ein unglaublich lebensechtes Portrait des berühmtesten Boxers aller Zeiten.

Mit Public Enemies legt Mann nun seinen dritten historischen Spielfilm vor. Und wieder geht es um eine bewegte Phase der amerikanischen Geschichte. Die Depressions-Ära hält zudem ein weiteres typisches Mann-Thema bereit: das organisierte Verbrechen. Die 1920er und 30er Jahre waren ohne Zweifel die Hochzeit des amerikanischen Gangstertums. Neben Al Capone verbindet man in den USA vor allem einen Mann mit dieser Epoche: John Dillinger. In nur einem Jahr raubte der gewitzte Verbrecher mit seiner Bande eine Vielzahl von Großbanken vornehmlich im Mittleren Westen aus. Bei der gebeutelten Bevölkerung avancierte er schnell zum Volkshelden. Da er öffentlich proklamierte nur das Geld der Reichen zu stehlen und die Behörden permanent an der Nase herumführte, wurde er zum neuzeitlichen Robin Hood hochgejubelt. Als das neu gegründete FBI Dillinger zum ersten Staatsfeind Nr. 1 ausrief, steigerte diese seine Popularität nur noch.

Wie nicht anders zu erwarten ist die Vergangenheit in Public Enemies bis ins kleinste Detail perfekt rekonstruiert. Manns Besessenheit zahlte sich aus: Schaufensterauslagen, Autos, Kleidung, Innenausstattungen, ja selbst Streichholzschachteln, alles ist authentisch. Wie bei Mann üblich, wurden die Darsteller akribisch im Umgang mit den verwendeten Waffen trainiert, scharfe Munition inklusive. Noch stärker als früheren Werken haftet dem Film etwas Dokumentarisches an. Das mag auch daran liegen, dass diesmal die großen Emotionen ausbleiben. Mann war hier offenbar mehr am Setting, an der exakten Abbildung der dargestellten Zeit interessiert. Wer mit der Erwartungshaltung kommt, einen zweiten Heat in den 30er Jahren serviert zu bekommen, wird definitiv enttäuscht sein. Zwar stehen auch hier ein cleverer Verbrecher und sein kompromissloser Jäger im Focus. John Dillinger (Johnny Depp) und sein FBI-Widersacher Agent Melvin Purvis (Christian Bale) erfahren allerdings weit weniger charakterliche Sezierung, als ihre vermeintlichen Pendants Neil McCauley (Robert De Niro) und Vincent Hanna (Al Pacino).
Public Enemies wirkt weit schlaglichtartiger und episodenhafter als Heat und kommt damit interessanterweise dem Mythos Dillinger erheblich näher als frühere Filmbiographien. Den wahren Dillinger kannte eigentlich keiner, eine Charakterstudie wäre somit reine Spekulation gewesen. Bankraub, Verhaftung, Ausbruch, Bankraub. Dieses Bild hatte die damalige Öffentlichkeit vom ersten Staatsfeind der US-Geschichte und genau dieses Bild kreiert Mann in seinem Film. Man mag das aus dramaturgischer Sicht bedauern oder kritisieren, der Wahrnehmung der Zeitgenossen dürfte dies aber erheblich mehr entsprechen  als der analysierte Dillinger.

Trotz dieser ungewohnten Distanz zu seinen Figuren, ist der typische Mann-Held in beiden Protagonisten deutlich zu erkennen. Erneut geht es um absolute Profis, die erst dann scheitern, wenn sie menschliche Regungen zulassen bzw. ihre eigenen ehernen Regeln brechen. Wie bei McCauley (Heat) oder Sonny Crockett (Miami Vice) gerät auch bei Dillinger das durch Disziplin, Vernunft und schonungslose Härte aufgebaute Gerüst ins Wanken, als er sich verliebt. Wie bei McCauley, Hanna oder Wigand (Insider) gibt es auch für Dillinger und Purvis keinen Weg zurück. Ihre Laufbahn und/oder ihr Ende sind vorgezeichnet, was sie auch wissen. Nirgends wird dies deutlicher als im (historisch verbürgten) letzten Kinobesuch Dillingers kurz vor seinem Tod. Im Gangsterfilm Manhattan Melodrama quittiert er die lakonischen Oneliner Burt Lancasters mit einem wissenden Lächeln. Das finale Motto - „Besser schnell sterben, als lange in Haft vor sich hinvegetieren" - dürfte dem berühmten Bankräuber aus der Seele gesprochen haben. Über allem steht eine nervöse, fast schon manische Rastlosigkeit, die den vorgezeichneten Weg in eine düstere Zukunft noch zusätzlich beschleunigt.

Was bei Manns oft leichtfertig als brutale Männerdramen abgetanen Filmen übersehen wird, ist sein famoses Talent, aus seinen ohnehin meist hochkarätigen Darstellern das Beste herauszukitzeln. Die Ausnahmemimen De Niro und Pacino waren nachher nie mehr auch nur annähernd so gut wie in Heat - und der Film ist bereits fast 15 Jahre alt. Russel Crowe zeigte eine weit bessere Leistung in Manns Insider wie in seiner Oscarprämierten Gladiator-Rolle. Daniel Day Lewis lieferte eine phantastische Leistung in Der letzte Mohikaner und Will Smith wird seit Ali auch in ernsten Rollen akzeptiert. Auch für Tom Cruise bedeutete die Zusammenarbeit mit Mann zweifellos seinen bisherigen darstellerischen Höhepunkt (Collateral).
Manns Vorgaben für Public Enemies waren für die prominenten Hauptdarsteller sicherlich keine leichte Aufgabe, werden ihre Figuren doch lediglich durch ihre Taten charakterisiert. Gerade Johnny Depps zurückhaltendes Spiel aber lässt Dillinger so bedrohlich wirken und macht die Brutalität seiner Aktionen glaubhaft. Auch Christian Bale gelingt es vortrefflich, die zielgerichtete Verbissenheit Melvin Purvis auszudrücken.

Dass es diesmal doch nicht ganz zum erneuten Meisterwerk gereicht hat, mag am etwas zu stark dokumentarischen Charakter des Films liegen. Anders als in Manns Großstadtthrillern fühlt man sich nicht mitten ins pulsierende Geschehen katapultiert, sondern ist mehr interessierter Beobachter. Trotz Dante Spinottis erneut meisterlicher Kameraarbeit und der cleveren Idee mit einer HD-Videokamera zu drehen, wirken die Bilder distanziert und kühl. Der angestrebte totale Realismus bleibt trotz der perfekten Ausstattung aus. Auch der weitestgehende Verzicht auf die Thematisierung gesellschaftspolitischer Hintergründe von Dillingers Raubzügen sowie eine zumindest teilweise Romantisierung der Hauptfigur erschweren zusätzlich den emotionalen Zugang zu Public Enemies.

Am Ende bleibt aber immer noch ein faszinierender und klar überdurchschnittlicher Gangsterfilm, der in erster Linie inszenatorisch, darstellerisch und ausstattungstechnisch überzeugt. Dramaturgisch ist er zu nah am Dokumentarfilm, um wirklich fesseln zu können. Manns Verdienst ist es, vor allem dem Mythos John Dillinger ein filmisches Denkmal gesetzt zu haben. Eine facettenreiche Charakterstudie des ersten Staatsfeindes Nr. 1 ist Public Enemies indes nicht geworden, aber das war wohl auch nie beabsichtigt.

(8/10 Punkten)

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